20. Mai 2018 - 2 Kommentare

Leidbetrachtungen

Leidbetrachtungen
Rainer Juriatti

Die Sau ist durchs Dorf gejagt. So heißt es doch? Und schon wartet die nächste Sau darauf, vorgeführt zu werden. Nicht immer abgeschlachtet, aber vorgeführt. Täglich wiederholt sich unser aller Bedürfnis nach „Bespaßung“. Die einen halten her, die anderen schauen zu. So funktioniert Kommunikation.

Mir gingen da gestern und heute so ein paar Gedanken durch den Kopf: Leidbetrachtungen. Besonders gerne schauen wir anderen in ihrem Leid zu, doch uns selbst soll es nicht zufallen. Leiden, das ist ein großer Begriff. Er wird gerne bei großen Schmerzen gebraucht. Leiden kann aber ganz unschuldig sein, etwas Nagendes, etwas, das nicht weggehen möchte. Jedenfalls wollen wir nicht, dass es uns zufällt und glauben auch nicht daran, dass es das tut. Nicht zuletzt handelt ja die erste Seite in Die Abwesenheit des Glücks davon: „Du dachtest, es kann dir nichts passieren, und das hier, das kann dir sowieso nicht passieren, es passiert anderen, denkst du, es passiert jeden Tag und widerfährt bedauernswerten Menschen, nicht aber dir, dir passiert das nicht, weil es nicht vorgesehen ist (…). Als du ganz jung warst, da dachtest du überhaupt und ganz im Allgemeinen, es könne dir nichts passieren, und das hier, das werde dir sowieso nicht passieren, und im Nachhinein da erschien es dir nicht angemessen (…). So dachtest du.“

Leid aber, scheint es, die Betrachtung Leidender, zieht enorme Aufmerksamkeit auf sich. Entscheidend dabei ist das Faktum, es solle das Leid der anderen bleiben. Wir wollen zuschauen, bitte nur Zuschauen. Vor einigen Wochen durfte ich zum Thema Kreuzweg etwas sagen. Josef Niederl, ein steirischer Maler, hatte mich gebeten, seine Vernissage zu begleiten und jedenfalls keine klassische Rede zu halten. Würde ich auch nicht machen. Aber das Stichwort Kreuzweg, seine die Malerei prägenden nackten Frauen dazu, das reizte mich. Also machte ich mir jene durchaus naheliegenden Gedanken darüber, was den Kreuzweg für uns immer schon dermaßen faszinierend erscheinen ließ. In meinem Fantasieflug kam ich auf jenen Typen, der Jesus während des durch Spucke und Flüche begleiteten Weges auf den Berg Golgota hinauf kurz mal helfen musste. Jener Moment fiel mir ein, in dem dieser Mann angewiesen bekam, das Kreuz zu tragen. Simon von Cyrene. Sie haben ihn später heiliggesprochen. Mir allerdings sind gänzlich unheilige Darstellungen in Erinnerung: ein sich wehrender, ängstlicher, ja panischer Mensch, der aus der Menge gegriffen wird und unfreiwillig vom Voyeur zum Akteur wird. Leid, nein, das soll nicht uns zukommen. Schon gar nicht unschuldig. (An dieser Stelle lade man sich das Bild, dass jede zweite Frau aus der Menge gegriffen wird und den Rest ihres Lebens mit einem Kreuz auf dem Rücken herumrennt.) Für den Heiligen ist die Sache gut ausgegangen, für den bespuckten Hauptakteur nicht. So soll es sein, so schreibt es die eindrückliche Dramaturgie vor.

Wenn du Kinder verlierst, es sei auf den Punkt gebracht, dann haut dir das Leben auf den Schädel. Dann greift dich irgendwas aus der Menge heraus, du schaust verwirrt … und dann, dann fängst du an, dieses Kreuz zu schleppen. Und irgendwann gewöhnst du dich an das Gewicht, an das Drücken, an die Schrammen. – Und jetzt wird es richtig übel: Denn währenddessen stehen andere am Wegrand und spucken weiterhin auf dich. Sie sagen dir, was du tun sollst, sagen dir vielleicht sogar, du selbst seiest schuld an dem, was dir hier widerfährt. – Und jetzt wird es noch übler: Denn es hört niemals auf. Auch später dann, wenn du längst kein Mitgefühl mehr brauchst (das du nie wirklich bekommen kannst, weil kein Simon von Cyrene dieser Welt dein Kreuz tragen kann) dann tauchen plötzlich Menschen auf, immer noch Antworten auf deine Verfasstheit haben.

Solche Gedanken also gingen mir durch den Kopf. Leidbetrachtung. In den letzten Tagen haben wir erlebt, welch enormes Maß an Gefühl einer Geschichte wie der unseren entgegengebracht wird, manchmal fast ein Zuviel an Empathie (auch Journalisten sind davon nicht gefeit, lächle ich gerade, und dann machen sie sogar etwas Liebliches aus dir, etwas, das du noch nie warst). Vera und ich sind dennoch begeistert über das viele aufrichtige Mitgefühl. Auch, wenn es nicht schmerzfrei bleiben kann. Denn immer wieder muss ich mich als Autor und Verfasser des Buches daran erinnern, worum es bei all dem geht: Um eine starke Stimme für Sternenkinder. Sie sollen nicht zum Objekt werden, an dem sich gut Ausweinen lässt. Sie waren und sind Menschen, die unseren Respekt bekommen müssen (Bekommen müssen: es ist noch nicht so weit). Pablo war einer von ihnen.

Hier geht's zu den Lese- und Aufführungsterminen aus "Die Abwesenheit des Glücks".

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

Kommentare

Nadja
20. Mai 2018 um 23:06

Ich kenne eine junge Frau, die so ein Kreuz trägt. Schwer liegt es auf ihren Schultern. Sie legt es nicht ab, nicht mal kurz. Ich habe das Gefühl, dieses Kreuz wird sie noch begraben! Sie müsste es mal loslassen, sich wieder mal erfreuen an der abhanden gekommenden Leichtigkeit, aber ich glaube, sie will ihr Kreuz nicht mehr loslassen. Das Leid ist vielleicht ihr Trost, ihre Trauer, ihr Strafe? Sie tut mir unendlich Leid, aber ich kann ihr nicht helfen. Sie ist so gefangen in ihrer qualvollen Welt.
Ich kann mich gut an mein Kreuz erinnern. Irgendwann muss dein Kreuz leichter werden, man darf sich nicht selbst dafür bestrafen. Das Leben geht weiter! Und das ist gut so.

Rainer
21. Mai 2018 um 08:40

… Nadja, um “im Bild” zu bleiben: Ich meine – du lebst ja auch selbst damit – dass das Kreuz unabänderlich übergeben wurde. Es ist da, während die Welt sich weiterdreht. Und nur jeder allein kann die Entscheidung treffen, wie er sich diesem Drehen der Welt nun stellt. Ich selbst habe mein ganzes Leben lang gesagt, man könne mir alles nehmen, so lange ich “die Literatur” habe. Diese für mich herrliche Insel im Drehen der Welt, das war immer schon meine Salbe. So gehe ich dorthin, irgendwie jeden Tag. “Von draußen” ist gut auf die Welt schauen, da kann man viel erkennen, was einem sonst wie ein Brett vor Augen stünde. Wenn ich davon spreche, 20 Jahre für dieses Buch gebraucht zu haben, dann ist es dieses Zuschauen in die Welt. Das Nachdenken darüber, was eben dieses übergebene Kreuz zu bedeuten hat. Nicht das Fantasieren darüber. Mehr das – ja, fast schon analytische – Nachdenken. So schließlich ist das Buch entstanden. Aber so ist es nur bei mir gewesen und wird es immer sein, Literatur ist kein Rezept, klar. Deine Freundin lebt vielleicht gerade in einer ihrer Talsohlen des Lebens, dort also, wovon Viktor Frankl sagt, dass am meisten zu lernen sei (schmerzhaft, aber wahr). In der Talsohle, auch das ist wahr, ist nicht weit blicken. … Und hier beginnt die Schwierigkeit: die Frage ist wohl, wie deine Freundin die ersten Schritte schafft, um ein erstes Sehen wieder möglich zu machen. Das klingt jetzt alles ein bisschen sehr poetisch, praktisch wäre wahrscheinlich eine Steighilfe notwendig, jemand, der nicht sagt, “es wird schon wieder” oder sogar “jetzt ist aber gut”, sondern jemand, der die ersten Schritte einfach an ihrer Seite bleibt. Oft ist ja jemand, der den Weg schon gegangen ist, der beste Bergführer. Ein Kreuz zu tragen muss bei keinem Menschen der Welt sofort auch Selbstkreuzigung bedeuten.

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