Wie es weitergeht
Rainer Juriatti
Vergangenen Freitag Abend saß ich in der wunderschönen Kirche von Grafenstein in Kärnten. Eine Leselampe. Das Manuskript des Abends vor mir. Stille. Aufmerksame Gesichter. Dann und wann eine Träne. Tags darauf saßen Vera und ich beim Interview. Zwei Überlebende irgendwie. Ich musste den Anwesenden unbedingt erklären, dass ich mir in dieser Rolle nicht gefalle.
Nichts unterscheidet meine Frau und mich seit nunmehr dem Jahr 1991 von anderen Paaren, die vor uns sitzen in jüngster Zeit. Allein die zeitliche Distanz zu den Ereignissen differiert dann und wann. Ansonsten: Gefühle kennen hier keine Zeit. Trauer ist stets gleich. Dennoch, es scheint, als sei das eine oder andere Paar vor uns froh, dass da endlich jemand sitzt, der öffentlich darüber spricht: über die Not, über die Verletzungen, über mangelndes Verständnis anderer, über Ignoranz und oftmals fehlende Fachlichkeit – Fachwissen in jenen Sekunden, die so unendlich weitreichend darüber entscheiden, wie man weiterleben kann.
Als ein junger Mann uns erzählt, er habe seinen Vater anrufen müssen in exakt jenem Moment, da dieser erwartet, einen Anruf über die schöne Geburt zu erhalten, als dieser erwartet, Geburtsgewicht und Größe des Kindes zu hören, als er ihm anstelle dessen sagen muss, das Kind sei tot, da kehrt all die Trauer in uns zurück, die wir vor 23 Jahren empfanden. Als eine Mutter unter Tränen erzählt von ihrer Tochter, die im achten Monat starb, da kehrt sie zurück die Empfindung all der Tode, die wir durchliefen. Und als ein junges Paar bereits in der Vorstellungsrunde weint und die junge Frau gar nichts sagen kann, da kehrt auch die Stille zurück, diese endlos erdrückende Luftleere all der Jahre.
Am Ende der zwei Tage in Kärnten kehren wir heim und wissen, dass es in den entscheidenden Dingen dieser Welt keine Zeit gibt. Dass das Schreckliche so lange lange seinen Schrecken behält, wie es nicht erklärt werden kann. Und wie es heißt in "Die Abwesenheit des Glücks": Das Schreckliche findet keine Erklärung in letzter Konsequenz.
Und schon Stunden darauf sitzen meine Frau und ich im Garten, gleich hinter dem Apfelbaum unseres Sohnes und wünschen uns, dass die Paare, die wir treffen durften, uns schreiben, dass sie in Kontakt bleiben mit uns, da wir es nicht dabei belassen wollen, bei diesen kurzen Treffen und den wenigen Stunden, die wir miteinander verbringen durften. Wir wünschen uns, sie mögen uns weiter erzählen von sich, von ihrem Weg, von ihren Träumen und Hoffnungen, von ihrem weiteren Leben und wie es ihnen ergangen ist.
Hier geht's zu den Workshops sowie Lese- und Aufführungsterminen aus "Die Abwesenheit des Glücks".
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text