Vorlesen und Kinderwunsch. Eine Analogie.
Rainer Juriatti
Intensive Gespräche haben uns in den vergangenen Wochen während der Lesungen und Textkonzerte durch ganz Österreich begleitet. Zugleich herrliche Stunden „hinter der Bühne“, mit wunderbaren Menschen und einem kleinen, positiv gestimmten Ensemble. Zur Lesereise Herbst 2018.
Die Balance zwischen Anspannung und entspannter Back-Stage-Stimmung waren eine wunderbare Erfahrung, die ich mit Philipp, Arnold, Vera und den jeweiligen Teams vor Ort machen durfte. Lachen und zugleich ernsthafte Gedanken über unser Dasein sind – gerade im Angesicht der Dramatik – denk- und lebbar.
Bleiben hoffnungsfrohe Sternenkindeltern glaubwürdig?
Sternenkindeltern werden gerne in die Ecke der „Dauerdepressiven“ gestellt. Sind sie das dann nicht, wird ihnen ebenso gerne unterstellt, dass sie ja nicht „wirklich leiden“, dass alles doch nicht so schlimm gewesen sein kann. Exakt damit haben sie zu kämpfen, mit eben dieser Sicht auf die scheinbare Inkompatibilität von Leid und Zuversicht.
Diese Vorbemerkung sei erlaubt, um die folgende Erkenntnis aus den Reisen auf den Punkt bringen zu können:
Vera befand sich eines Abends in einem sehr intensiven Gespräch mit einer Besucherin, ein Gespräch, das sie ganz oft führte in den letzten Tagen. Als wir auf dem Weg in unsere Unterkunft waren, erzählte sie mir davon: vom Leiden, von den Tränen, von der Not des Alleinseins der Eltern, die ihr Kind in der 30. Schwangerschaftswoche verloren hatten. Und sie erzählte von der Scham: Die Frau belege, erzählte Vera, was wir „Sternenkind-Eltern“ alle kennen. Scham begleitet die Zeit des akuten, großen Schmerzes.
Und ein eigenartiges Gefühl der Scham, so erzählte die Betroffene, begleite sie auch weiterhin: Sie getraue sich niemandem zu erzählen, dass sie sich dennoch weiterhin ein Kind wünsche. Zwei Kinder hätten ihr Mann und sie bereits. Drei habe sie verloren und habe das Gefühl, ihr Umfeld würde niemals verstehen, dass dieser drängende Wunsch, doch noch ein Kind zur Welt zu bringen, weiterhin bestehe.
Schamgeprägte Sternenkindeltern?
Würde diese Frau also anderen erzählen, sie blicke zuversichtlich in die Zukunft, so läuft sie Gefahr, dass man ihr das tiefe Leid und die große Trauer um ihre zu früh verstorbenen Kinder abspricht. Doch das eine hat mit dem anderen nichts zu tun: So lange wir fähig sind, Hoffnung zu empfinden, und sei es nur die Hoffnung auf eine erneute Schwangerschaft, so lange gehen wir nicht unter, so lange ertrinken wir nicht. Eine weitere Schwangerschaft hat mit dem Tod des einen oder mehrerer Kinder nichts zu tun. Es hat allein mit der Mutter/mit den Eltern zu tun.
Und so ist es wie auf der Bühne: Dort zu stehen, das erfordert Ernsthaftigkeit, Vorbereitung und Probenzeit. Auf der Bühne stehen zu wollen, tausende Kilometer dabei zu reisen, aus dem Koffer zu leben, dies alles erfordert die Liebe dazu.
Denn so verhält es sich mit unseren Sternenkindern. Sie zu würdigen, erfordert die Liebe, die wir für sie empfunden haben. Die Hoffnung nach ihrem Tod ist unser Motor, weiter zu machen und gut im Leben zu stehen
Hier geht's zu den Lese- und Aufführungsterminen von "Die Abwesenheit des Glücks".
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text