Lachen trotz Verletzungskerben
Rainer Juriatti
Okay. Das Internet zeigt uns. Ob rühmlich oder unverdient, das mag ich nicht beurteilen, doch Vera und ich sind nun seit einem Jahr unterwegs, angetrieben vom Wunsch, Sternenkindern eine starke Stimme zu geben. Das Internet bleibt naturgemäß ja gerne an der Oberfläche hängen, an einigen Bildern, an wenigen Texten von oder über die jeweils Betroffenen. Dieser Gedanke kam mir entsprechend einem Parodoxon: Man findet nämlich sehr rasch Bilder von uns, auf denen wir herzlich lachen und auf die wir manchmal auch angesprochen werden, sei es positiv, sei es negativ.
Das Paradoxe dabei: So sehr das Internet gerne an der Oberfläche hängen bleibt, als „Abbilder“ von Zeitungsartikeln fungiert oder von Rezensionen, „Verzerrer“ von Einzelmeinungen und auch Verurteilungen, so sehr treffen die manchmal kommentierten, lachenden Bilder von Vera und mir den Kern der Sache: Sternenkindeltern sind allein. Sie bleiben es, so lange nicht über ihre Kinder gesprochen werden soll oder gesprochen werden darf. Denn auch das unausgesprochene „Verbot“, oftmals von nahen Angehörigen und Freunden signalisiert, schlägt tiefe Verletzungskerben. Sternenkindeltern ist es nur mühsam erlaubt, ihr Lachen wiederzufinden.
Die starke Stimme
Und hier, scheint mir, gelingt es dem „Abbild“ der Berichte über die „Die Abwesenheit des Glücks“, den Kern unseres Wunsches zu treffen. Bekommen nämlich Sternenkinder eine starke Stimme, so wird ihren Eltern erst die Möglichkeit geboten, Trost zu finden bei anderen. Registrieren Angehörige, Freunde und Bekannte, dass sie tatsächlich – nicht abstrakt, nicht im übertragenen Sinn – ein totes Kind betrauern (oder mehrere), so werden sie ihnen anders begegnen. Jedes Kind, das in einem Mutterleib heranwuchs, egal, wie viele Wochen, hat diese „öffentlich“ zelebrierte Trauer verdient. Öffentlich schreibe ich in Anführungszeichen, da es sich bescheidenermaßen dabei zumeist um einige wenige, enge Vertraute handelt. Dort beginnt das Anerkenntnis des kleinen Lebens. Dort soll jedes Kind seine würdevolle Existenzbestätigung erhalten dürfen.
Das Lachen wiederfinden
Lachen also trotz Verletzungskerben, trotz Schmerz und Trauer. Das schließlich signalisieren die Internetbilder von Vera und mir. Ohne jegliche, heute spürbare Emotion bleibt es ein Faktum, dass uns sehr viele Verletzungen von vermeintlichen Freunden und Bekannten zugefügt wurden. In „Die Abwesenheit des Glücks“ habe ich geschrieben, dass ich darüber nicht hinwegkommen werde. Diese Erkenntnis in einem Buch abgedruckt zu wissen, war wohl überlegt, wurde wohl durchdacht, und nicht zuletzt mehrfach mit Vera erörtert. Andere Betroffene sollen davon wissen, da es bis heute geschieht.
Mein Lachen nämlich habe ich wiedergefunden, als ich mir exakt diese Erkenntnis eingestand, als ich nicht mehr dagegen ankämpfte, als ich diese schmerzvollen Erfahrungen nicht mehr loswerden wollte. Zu lange hatten dadurch andere sehr lange große Macht über mein Gefühlsempfinden gehabt, erkannte ich. Und schlagartig wandte sich mein gesamten Gefühlsempfinden, plötzlich fühlte ich mich vollkommen frei. Allein dadurch fand ich mein Lachen wieder. In Folge machte ich mich frei von diesen Menschen, sprach manchmal sogar ganz konkret aus, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben wolle. So folgte ein Befreiungsschritt dem nächsten.
Wenn im Internet also Bilder von Vera und mir zu finden sind, die uns im Kontext unserer Sternenkinder lachend zeigen, dann sind dies Bilder der Befreiung, Bilder der Anerkenntnis unserer Kinder, so als lachten wir: Ja, sie haben gelebt, es hat sie gegeben.
Die Abwesenheit des Glücks: Textkonzerte 2019.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text