Die (Bilder)Welt im Abseits
Rainer Juriatti
Gestern. Starker Regen in Graz, viel zu kalt für diese Jahreszeit. In der Früh ein Essay in der Tageszeitung. Die Welt wird untergehen. Uns allen bleiben noch zehn Jahre Zeit, unsere Leben vollkommen zu ändern. Durch den Regen ins Rathaus. Die Stadträtin wollte ein Gespräch, doch sie versetzt mich. Zurück in meine Schreibstube. Organisatorische Telefonate für die Lesetour im Herbst. Eine Sekretärin wimmelt mich ab. Es scheint ihr ziemlich egal zu sein, dass ich seit einem Jahr auf eine Antwort warte. Der Chef habe viel zu tun. Gleichgültigkeit schwappt durchs Telefon. Dann ein Alarm auf meinem Smartphone. Ein Sternenkind ist zu fotografieren.
Ein einziges Bild nur ist das Hauptmotiv in Pablos Geschichte. Meine Erzählung beginnt damit. Dieses eine, winzige, schlichte Polaroid trägt unseren Sohn durch unsere Leben. Auf den Lesereisen im vergangenen Jahr wurde mir durch viele Gespräche zunehmend bewusst, wie wichtig solche Bilder in einer Welt der überbordenden Bilderflut sind. Diese Bilder nämlich bleiben. Sie werden niemals gelöscht, sie werden niemals vergessen.
Alarm in Kreis 40
Ich öffne den Fotografen-Chatroom von „Dein-Sternenkind“ und spreche mich mit meiner Kollegenschaft ab. Der Alarm ging von einer Grazer Klinik aus, erreichte eine der Moderatorinnen in Deutschland, die uns – die wir im „Kreis 40“ tätig sind – nun koordiniert. Sofort sind zwei Kolleginnen und ein Kollege mit dabei. Wir sprechen uns kurz ab und ich übernehme den „Auftrag“. Am Vortag hatte ich 16 Stunden gearbeitet, also habe ich sowieso vor, mir an diesem Nachmittag frei zu nehmen. Eine der Kolleginnen schreibt, sie sei froh, weil anders gebunden, doch gerne sei sie mein Backup.
Ich ordne meine Fototasche, checke die Akkus und poliere meine Objektive. Vera fragt nach der Schwangerschaftswoche des Kindes. Vor wenigen Tagen haben wir „Einschlagsdecken“ bekommen. Von unseren Freunden in Kärnten, der Österreichischen Plattform für Verwaiste Eltern. Dort gibt es ehrenamtliche Näherinnen. Vera entscheidet sich für zwei vermutlich passende Größen, die sie mir in die Tasche packt.
Noch ein Kind
Es heißt, der Vater des Kindes rufe mich an, wenn es so weit sei. Ich gestalte drei Raumdesigns für einen meiner Kunden. Dann ordne ich Belege für die Buchhaltung. Zeit überbrücken anstelle der geplanten Laufrunde. Kurz darauf erneut ein Alarm. Ich bestätige und klicke in den Chatroom. Wieder eine Grazer Klinik, erneut „Kreis 40“. Wieder wir vier, dazu ein weiterer Kollege. Die Geburt wird, so heißt es, am nächsten Tag eingeleitet. Also in diesen Minuten, da ich diesen Text hier schreibe. Diesmal biete ich mich als Backup an. Ein anderer Fotograf auch. Jene Kollegin, die gestern mein Backup war, übernimmt.
Am frühen Abend dann fahre ich los. Der Vater hat sich gemeldet, klang ruhig und dankbar. Im dichten Abendverkehr betrachte ich die tausenden Menschen bewusster als an anderen Tagen. Sie alle gehen ihren Weg. Sie alle leben ihre Aufregungen, ihre Verzweiflungen, ihre Freuden. Sie alle leben diesen Augenblick in jener Welt neben der, auf die ich zufahre. Hin zu diesen entscheidenden Bildern. Am Ende werden es 16 sein. Wenige Aufnahmen nur. 16 Bilder eines gelebten Lebens. Ein kleiner Junge, in die Welt gestorben, wie es in „Die Abwesenheit des Glücks“ heißt. Hineingeboren in die Arme zweier lieber Menschen, die vor Trauer überschäumen.
Hier geht’s zu Dein Sternenkind.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text