Die Anwaltschaft der Bildermacher
Rainer Juriatti
Ausführlich wurde an dieser Stelle bereits von der enormen Bedeutung des Erinnerungsbildes berichtet. Gestern Abend allerdings durfte ich erfahren, wie weit unser Fotografieren eines verstorbenen Kindes noch gehen kann.
Vera und ich wurden als Sternenkindfotografen abends in eine Klinik gerufen. Im Briefing unseres Alarms stand geschrieben, die Eltern zögen es vor, nicht dabei zu sein, doch gerne hätten sie ein Erinnerungsbild. Als ich mit den Betreuenden in der Klinik telefonierte, um anzukündigen, dass wir in wenigen Minuten da sein können, wurde nochmals gesagt, dass das Kind allein zu fotografieren sei, da die Eltern bereits während des Sterbeprozesses nicht dabei gewesen seien.
Empfangen wurden wir von der leitenden Hebamme, die erneut betonte, wir sollten nur das Kind allein fotografieren, die Mutter wolle es nicht sehen. Vera fragte vorsichtig nach, ob sie mit der Betroffenen sprechen dürfe, nur einen kurzen Moment, sie sei davon überzeugt, dass diese später bereue, ihr Kind niemals in den Armen gehalten zu haben. Die Hebamme lehnte den Kontakt mit den Worten „das ist entschieden“ ziemlich schroff ab, außerdem liege die Frau auf einer anderen Station, wegen Covid sei der Zugang erschwert.
Erstmals also fotografierte ich einen kleinen Menschen, der keinen Namen trug.
In seiner Isoliertheit wirkte der kleine, gerade verstorbene Junge einsam, verloren – unvollständig. So begannen meine Frau und ich mit ihm zu sprechen, während wir seine Finger, seine Füße, seine Gesichtszüge ablichteten. Wir bemerkten respektvoll und fasziniert, dass er „auf großem Fuß“ gelebt hatte, wir bewunderten seine hübschen Gesichtszüge und Vera bettete ihn in fotogene Positionen. So, wie wir das bei jedem Menschen machen, dessen Würde und Personenrecht festzuhalten ist. Das ist unser Auftrag.
Über die Bilder hinaus
Doch Vera spürte an diesem Abend einen noch viel weitreichenderen Auftrag (und ich bemerkte erfreut, dass sie unbeeinflussbar daran festhielt): Immer wieder fragte sie bei der leitenden Hebamme nach, ob sie mit der Mutter sprechen dürfe und betonte, wie hübsch und „psychisch ungefährdend“ das kleine Kind aussehe. Die Hebamme allerdings lehnte immer rigoroser ab, ich bekam das Gefühl, sie mache das inzwischen längst aus Prinzip und unterstellte ihr (ohne es natürlich auszusprechen) weitreichende und vollkommene Ahnungslosigkeit.
Als wir schließlich allein waren, meinte eine bislang unbeteiligte, liebe Mitarbeiterin des Hauses flüsternd, sie könne Vera auf jenem Weg zur Mutter führen, den sie üblicherweise auf die Station nehme. Vera verstand sofort und folgte der tollen Frau.
Nur wenige Minuten darauf kam die Dame zurück und meinte lächelnd: „So, natürlich hat es Ihre Frau geschafft und die Mutter möchte nun ihr Kind sehen.“
„Ich habe nur wenige Sekunden gebraucht“, erzählte mir Vera später. „Ich habe der jungen Mutter erklärt, dass ich es mein ganzes Leben bedauert habe, unseren Sohn Pablo nicht in den Armen gehalten zu haben. Da hat sie ihr Kind sofort sehen wollen.“
Meine Aufgabe sind Fotos. Nicht mehr, nicht weniger. Veras Aufgabe reicht weit darüber hinaus. Und damit ist sie die beste Sternenkind-Fotografie-Assistentin, die man dabei haben kann. Das durfte ich gestern Abend begreifen.
Das Kind bekommt einen Namen
Dank Vera bekommt die Mutter nun weitere wichtige Bilder: Bilder der Liebe, Bilder des Abschiednehmens. Eine Oma, die ihren Enkel küsst. Eine Mama, die nicht aufhören kann, ihren Erstgeborenen zu streicheln. Eine Oma, die ihre Tochter hält, während diese ihren Sohn einhüllt. Eine Mama, die Tränen vergießt und zugleich glückselig wirkt, da sie ihre Nase in der seinen erkennt. – Eine Mama schließlich, die ihrem Kind einen Namen gibt. (Das, ich gebe es zu, war der bewegendste Moment des gestrigen Abends: Das einsame, namenlose Kind wird zur Person.)
Ich bin überzeugt: Vera hat dank ihrer Beharrlichkeit das gesamte Leben dieser Frau verändert. Bis an ihr Lebensende wird diese Mutter davon erzählen, dass sie ihren Erstgeborenen in den Armen gehalten habe (vielleicht sogar die ganze Nacht), dass sie es war, die ihn gehen ließ, indem sie ihr Einverständnis gab, ihn nun mitzunehmen. Davon wird die Frau berichten und nicht davon, von einer leitenden Hebamme bestens bewacht worden zu sein, da sie im ersten Schock meinte, das Kind nicht sehen zu wollen.
Und das Wichtigste: Für einen Moment nur hatte der kleine Mann eine Mutter.
Hier geht's zu Veras Buch "Leon & Louis oder: Die Reise zu den Sternen".
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text
Anita Dressel-Malang
29. August 2020 um 09:16
Liebe Vera und lieber Rainer,
ich verfolge eure eigene Geschichte und euer Wirken für andere zum Thema „Sternenkinder“ seit vielen Jahren und kann euch nur meine allergrößte Hochachtung aussprechen.
Wunderbar, was in diesem beschriebenen Fall möglich wurde!
Anita (zweifache Sternenmutter)
Rainer Juriatti
29. August 2020 um 13:01
Liebe Anita!
Danke für deinen Beitrag hier, danke für dein “Dabei-Sein” seit vielen Jahren!
Ulrike Geiger
29. August 2020 um 17:38
Wow ❤️❤️❤️ Gänsehaut und Tränen die sein dürfen Danke für euer WIRKEN und SEIN ihr seit sooooo WERTvoll ❤️
Rainer Juriatti
29. August 2020 um 17:45
Vielen lieben Dank für diesen lieben Kommentar, wir freuen uns sehr über die schönen Rückmeldungen, die uns heute erreicht haben. Dabei geht es nie um uns, es geht um die Sache und die Kinder. Danke dir!
Sabine
29. August 2020 um 19:50
Ihr seid einfach großartig!
Rainer Juriatti
29. August 2020 um 22:15
Vielen lieben Dank!
Stefanie Gundacker
30. August 2020 um 06:57
Ihr zwei Herzensmenschen. Ihr lieben Sternenkind-Fotografen-Kollegen. Das habt Ihr ganz zauberhaft gemacht. Auch diese und ähnliche Geschichten gehören zu unserer Arbeit! Danke, dass Ihr so seid!
Rainer Juriatti
30. August 2020 um 08:26
Liebe Stefanie!
Ja, solche Geschichten gehören zu unserem Tun dazu.
Und für mich, als Autor, drängt es sich beim Aufwachen manchmal als tatsächlich ersten Gedanken des Tages auf: Ich muss es niederschreiben. Damit vielleicht das Thema nicht einschläft.
Danke für deinen wertschätzenden Kommentar, Vera und ich geben es doppelt und dreifach zurück!
Andrea Steurer
30. August 2020 um 08:30
Ich bin zutiefst berührt über eure Erzählung und das mitwirken dieser freundlichen Dame, damit die Mutter ihren Sohn sehen, halten empfangen konnte. Um ihn dann wieder gehen zu lassen.
Danke für euren wertvollen beitrag!
Rainer Juriatti
30. August 2020 um 09:18
Liebe Andrea,
danke für die wertschätzenden Worte, die meiner Ansicht nach vor allem der hilfreichen Dame im Krankenhaus (die aus verständlichen Gründen ja anonym bleiben möchte, da sie das Gefühl hat, Schwierigkeiten bekommen zu können) zukommen sollen. Sie hat die Tür geöffnet in ein heilsames Ende. Danke dir für den Kommentar, der uns bestärkt, weiter zu machen…
Regina
4. September 2020 um 13:51
Wow, ich bin durch Zufall über einen Bericht auf Facebook gerade auf Eure Seite gestoßen und nun sitze ich hier und weine….
Danke für Eure Arbeit.
Rainer Juriatti
4. September 2020 um 16:45
Liebe Frau Regina!
Auch namens meiner Frau darf ich Ihnen sehr herzlich für Ihren lieben Kommentar, der uns rührt, bedanken.
Rainer Juriatti
Rika
22. Januar 2021 um 21:03
Ich habe das erste Mal in unserer Vereinszeitung “Leben ohne Dich” von Ihnen gelesen und bin tief berührt. Ich bin Mama von acht Sternenkindern, sieben Fehlgeburten und ein Sohn, der an seinem zweiten Lebenstag verstarb.
Ihre Geschichte zu lesen weckt Erinnerungen, die ich schon lange verschlossen in mir trage.
Ich danke Ihnen beiden, dass Sie Ihre Erfahrungen und Erinnerungen teilen.
Der Schmerz und die Trauer um meine verstorbenen Kinder gehören zu mir. Sie sind ein Teil meines Ichs.
Danke.
Rainer Juriatti
23. Januar 2021 um 11:01
Liebe Rika!
Es gibt nicht viel zu sagen auf Ihre Zuschrift hin: Ich trage während des Lesens großen Schmerz in meiner Brust und sende Ihnen – auch im Namen von Vera – all unsere lieben und stärkenden Gedanken.