Das alte Lied vom Augenrollen
von Rainer Juriatti
Mein Besprechungsgegenüber sagt, man arbeite ja eh mit der Sternenkindbox. Sie sagt nicht ich. Oder wir. Man. Jemand also. Irgendwer. Und eh. Will heißen: Halt den Mund.
Halte ich aber nicht. Kann ich gar nicht. Schöne Besprechung. Nochmal: Sie sagt nicht, ich arbeite mit der Sternenkindbox. Man. Ich antworte, eine Mutter habe mir geschrieben, eine solche Box nicht bekommen zu haben. Eine andere auch, die habe dann eine kaufen wollen bei mir, unter Tränen. Dabei sind sie gratis. Und ich selbst habe gar keine mehr. Weil ich sie vertrauensvoll meinem Besprechungsgegenüber überlassen habe. Die rollt jetzt mit den Augen. Vor ein paar Tagen schon rollte hier jemand mit den Augen. Als meine Frau während einer Sternenkindfotografie fragte, ob die Eltern eine Box erhalten hätten. Da rollte eine junge Kollegin meines Besprechungsgegenübers mit den Augen. Also auch irgendwer. Man rollt hier mit den Augen. Man. Irgendwann trabte die junge Frau dann widerwillig los und holte eine. Dabei hatten die Eltern tatsächlich schon eine Box erhalten. Nur wusste das die Augenrollerin nicht. Es ist kompliziert. Wenn die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Man koordiniert hier nicht. Dabei könnte es so simpel sein. Wir wissen, dass es hier auf dieser Station genügend Sternenkindboxen gibt, die Eltern überreicht bekommen sollen, wenn sie ein totes Kind zur Welt bringen müssen. Ein Sternenkind. So nennt man tote Kinder, die zur Welt sterben. Nicht kommen. Weil es ja ein Gehen ist. Das wiederhole und wiederhole ich stets, also auch jetzt: Sie sterben zur Welt. Und für uns sind sie es gewesen. Die Welt.
Die Sternenkindbox ist nur ein winziges Instrument. Viele Krankenhäuser arbeiten inzwischen sehr gut damit. Krankenschwestern und Hebammen bezeichnen sie als unterstützende Handreichung. Viele Ärztinnen und Ärzte loben die Sprache darin, die Trost- und Erinnerungskarten, die treffsicheren Adressverzeichnisse. Sie wird in der Steiermark gratis ausgegeben. Und bald schon in einem anderen Bundesland. Darüber freuen wir uns sehr. Augenrollerinnen allerdings lassen nicht mit sich reden. Augenrollerinnen ist es egal, wer da gegenüber sitzt. Augenrollerinnen meinen, zu wissen, wie es uns Sternenkindeltern zehn, zwanzig, dreißig Jahre später ergeht. Sie ahnen nicht, dass wir an sie denken, den Rest unseres Lebens. Dass wir vielleicht geweint haben, als wir an der falschen Adresse um eine kleine Box betteln mussten. Dass wir bittere Zeilen verfassten an Menschen in Hilfseinrichtungen, Menschen die uns nahe sind, näher, als Augenrollerinnen je sein können. Zeilen, in denen wir die schlechte Behandlung kritisierten, da wir nicht bekamen, was andere erhielten. Augenrollerinnen ahnen nicht, dass Sternenkindeltern in Foren vernetzt sind. Dass sie erfahren davon, dass es eine Box geben hätte sollen mit Hilfsadressen, mit Adressen über Gedenkorte und sogar Adressen für die Geschwisterkinder. Augenrollerinnen haben die Geburt gepachtet. Die Sternenkindmutter gehört ihnen, niemand hat sich einzumischen. Gemessen am Leben einer Sternenkindmutter sind es Sekunden. Entscheidende allerdings. Die Sternenkindbox ist nur bescheidenes Instrument. Eines, das weit darüber hinausweist.
Man schafft Distanz. Ich erlebe jene Ablehnung, die ich vor Jahrzehnten als Sternenkindvater erdulden musste. Ich werde kleingemacht und in meiner Inkompetenz abgelehnt. Ich erkenne: Nichts hat sich verändert in den letzten dreißig Jahren. Noch immer sitzen sie uns gegenüber. Die Ignorantinnen. Die Verneinerinnen. Die Ablehnerinnen. Und ich, ich bin Produkt ihres Verhaltens. Man wird mir nicht mehr weh tun. Ich lasse es nicht mehr zu. Wahrscheinlich kann mein Besprechungsgegenüber gar nicht sagen, warum sie sich so verhält. Vielleicht, weil es unangenehm ist, von anderen Menschen zu lernen.
Hier geht's zum Video über die Sternenkindbox.
Hier geht's zu "Die Abwesenheit des Glücks".
Hier geht's zu Vera Juriattis Buch "Leon & Louis oder: Die Reise zu den Sternen".
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text