Arbeitslos viel beschäftigt
von Rainer Juriatti
Sie schmeißen mich raus. Und dennoch habe ich viel zu tun. Ein Protokoll.
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Tote Kinder sind immer schön. Man kann ihre Seelen sehen.
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Entlassen haben sie mich. Vor die Tür gestellt wie einen Karton Altpapier mit unbrauchbaren Textzeilen darauf. Zunächst war da die Einladung zum Sommergespräch gewesen. Im letzten Jahr bereits. Zwischen den Corona-Wellen Eins und Zwei. Es mag eine Art Vorwehe zum großen Finale gewesen sein, dieses Sommergespräch. Zu meiner Frau sagte ich „wirst sehen“. So sagte ich. „Wirst sehen.“ Vorab, schon vor dem Sommergespräch selbst sagte ich es. Um es rückblickend bestätigt zu wissen. Irgendwie ahnte ich, dass es kein übliches Reden sein wird. Man fühlt so etwas. Ich ging also hin, setzte mich an den mir freundlich zugewiesenen Platz im Besprechungszimmer, lächelte zuversichtlich und fragte: „Na, wie geht’s?“. So eröffneten die Abteilungsleiterin und ich gerne unsere Gespräche. Seit etwas mehr als zwanzig Jahren. „Na, wie geht’s?“ Und natürlich ging es uns immer prächtig. Bis zu diesem Tag. Dennoch antwortete sie breit lächelnd, es gehe sehr gut, sie freue sich, dass ich hier sei. Normalerweise hätten wir an dieser Stelle die Kurve genommen in meine Texte und Bilder. Texte und Fotografien für ihre Abteilung. Ich arbeitete für viele Abteilungen, vor dem großen Finale. Vor der Entsorgung meiner Lettern auf ihren Papieren. Die Abteilungsleiterin jedenfalls eröffnete mir ohne Umschweife, die Pandemiezeiten seien hart gewesen für ihr Ressort und für das Unternehmen im Allgemeinen. Es sei auch an der Zeit, den Stil zu ändern. Damit war die Katze aus dem Sack. Die darauf folgenden acht Minuten hörte ich mir ihren Begründungsvortrag an. Acht Minuten für zwanzig und mehr Jahre. Ich kann die Zeit auf die Minute bestimmen, da hinter ihrem bemüht lächelnden Gesicht eine große Uhr an der Wand hing, verbunden mit dem Spruch: Wenn wir etwas haben, dann Zeit für Sie. Ich hatte den Spruch vor einigen Jahren für diesen Raum und damit die nun permanent Lächelnde entwerfen dürfen. Die Abteilungsleiterin erklärte mir, dass meine Aufgaben von einer jungen Texterin übernommen würden, man wolle die Sprache verjüngen, den Stil an die nachfolgenden Generationen anpassen. Man habe also keinen Bedarf mehr für meine Tätigkeit. „Ab sofort?“ „Ab sofort.“ „Auch keine Fotografie?“ „Auch keine Fotografie.“
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Seit Beginn des ersten Lockdowns sind die Alarmierungen für Sternenkindfotografen stark zurück gegangen. Gegen Null im Vergleich zu früher. Jeder Alarm heißt, dass gerade ein Kind stirbt. Dann fahren wir los. Kein Alarm hingegen heißt nicht, dass niemand stirbt. Doch seit die Krankenhäuser zu Akutstationen mutiert sind und jeder Dienst von Außen als Infektionsrisiko betrachtet wird, seit dieser Zeit bleiben Eltern mit ihren toten Kindern allein. Isoliert, in vielerlei Hinsicht.
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Jemand bittet mich, einen Artikel zu schreiben. Da sich das wahre Leben aus den Straßen verabschiedet hat, landet es auf Papier oder im weltweiten Netz. Ganz grundsätzlich werden Autoren ja oft gefragt, ob sie einen Artikel schreiben. Oder Fragen beantworten. Oder beides. Sie erhalten selten etwas dafür. Man erklärt, der Artikel werde dabei helfen, Bücher zu verkaufen. Natürlich ist das ein Trugschluss. Man müsste für einen Artikel tausend Bücher absetzen, um dann einen einzigen Monat davon leben zu können. Alles, was ich zu sagen habe, steht in einem Buch. Es verkauft sich auch ohne Artikel, so von Mund zu Mund. Ich habe ein Zielgruppenbuch verfasst. Eines für Sternenkindeltern.
„Es ist unmöglich, einen Artikel zu schreiben“, sage ich deshalb zu meiner Frau. „Ist doch alles gesagt.“
„Schreib einfach“, antwortet sie knapp. „Schreib.“
„Was bleibt, ist ausgehöhltes Dasein“, antworte ich trotzig.
„Den Titel hast du damit ja schon“, lächelt sie.
Auch für solche Antworten mag ich sie.
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Also setzte ich mich an den Tisch und schreibe einen Artikel. Wieder einmal. Der zentrale Satz kommt erneut vor. Er stirbt zur Welt. Es ist mein Satz. Ich erhebe den alleinigen Anspruch darauf. Wahrscheinlich der entscheidende Satz in meinem gesamten literarischen Schaffen. Er stirbt zur Welt. Mein Satz.
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Sommergespräche. Zwanzig hatte ich geführt, immerhin. Nun trat ich aus dem Schatten des Besprechungsraumes hinaus in die sonnendurchflutete Hitze des Vorplatzes und lächelte. Keine Texte mehr, die von den Vorzügen eines Unternehmens sprechen mussten, damit Beiträge pünktlich einbezahlt werden. Keine Bilder mehr von Männern in erhabenen und Frauen in dienenden Funktionen. Dennoch ahnte ich, dass dies nur der Anfang gewesen war. Vor einigen Monaten hatte ich Skulpturen entworfen für dieses Unternehmen. Stahlgebilde, die auf abstrahierte Weise von Reichtum und Armut erzählten. Eine andere Abteilung hatte sie in Auftrag gegeben. Schlecht bezahlt machte ich mich an die Arbeit. Die Botschaft war mir wichtig gewesen: Eine Wanderausstellung zum Thema Armut in unserem reichen Land. Oft schon hatte ich für diese Abteilung Projekte entworfen. Immer schlecht bezahlt, doch stets von großer Bedeutung. Wenige Wochen nach dem Sommergespräch wurde mir in einer E-Mail mitgeteilt, man habe nun keine Aufträge mehr für mich. Man benötige meine Dienste nicht mehr, werde mich jedoch zur Vernissage des abgeschlossenen Projektes gerne einladen. Einige Tage später las ich in der Zeitung, dass diese bereits stattgefunden hatte. „Wirst sehen“, sagte ich zu meiner Frau. „Wirst sehen.“
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Mit Corona hat sich alles verändert. Viele Krankenhäuser dämmen Dienste von Außen ein. Und so erzählen sie den Eltern nicht, dass es uns gibt. Man vermisst nur, was man kennt. Denken sie. Wenn Eltern von uns erfahren, rufen sie uns selbst. Sie setzen sich für ihr Recht auf ein Bild ein, oftmals gegen die neuen Corona-Regeln. Und so darf es dann doch sein, dass uns der Alarm aus dem Smartphone dem Alltag entreißt.
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Viele winzige Härchen. Wunderschön. Der feine Faden eines Tupfers stört. Mit bloßem Auge ist er kaum zu erkennen. Im Makroobjektiv erst wird er zum Störfaktor. Tatsächlich ist da erneut nur mein Objektiv. Mein Ich versinkt in der gestellten Aufgabe. Die Schönheit zu sehen, bleibt das Einzige, das zählt. Gelingt nur ein einziges Bild, so ist die Aufgabe gelungen. Dieses eine Bild tragen wir den Rest unseres Lebens mit uns. Dieses eine Bild spielt die Hauptrolle in unseren Erinnerungsfragmenten, bemessen an Jahrzehnten. Ein Foto betrachten zu dürfen ist nichts Geringeres, als einen Beleg dafür in den Händen zu halten, dass es den kleinen Erdenmenschen gegeben hat. Ein Beleg dafür, dass es hieß, Vater oder Mutter zu sein und es von nun an immer zu bleiben. Manchmal denke ich, für Außenstehende muss dies alles sehr absurd klingen, doch mit dem Trost der Jahre, mit der Gewissheit des entschwundenen Glücks, bleibt allein die Erinnerung, geliebt zu haben und niemals damit aufzuhören.
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Manch Erlebtes führt uns die Grenzen unseres Ertragens vor Augen, wir sind dann nicht mehr ganz bei uns und werden zum Instrument des Nebels, der uns umgibt.
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Eine E-Mail kündigte das Finale an. Er wolle mit mir konferieren, hatte der für meine monatlichen Honorarnoten zuständige Abteilungsleiter in den ersten Herbstwochen, wenige Tage nach der Vernissage der Wanderausstellung Armut geschrieben. Also loggte ich mich auf der zugesandten Internetseite ein. Die zweite Welle hatte das ganze Land bereits fest im Griff, ein persönliches Treffen – zum wiederholten Mal in diesem Jahr – galt als unmöglich. Wenigstens kein freundliches Getue, dachte ich. Ich trug ein Hemd und eine Weste, dazu Jogginghose. War ja nicht zu sehen unter dem Schreibtisch. Bald erschien sein Gesicht auf meinem Bildschirm. Es folgten wenige Floskeln. „Kannst mich hören?“, „Schöne Bücherwand“, „Wo sitzt du?“, „Wie macht man den Hintergrund unscharf?“. Dann kam er zur Sache. So von Bildschirm zu Bildschirm. Ich wisse ja, die Coronakrise habe fette Löcher in die Budgets gefressen. Nein, wusste ich nicht. Ich wisse ja, dass es immer weniger Arbeit für Fotografen und Texter gebe. Nein, wusste ich nicht. Es sei alles schwierig, alle seien in Kurzarbeit und Homeoffice. „Die Firma produziert doch weiterhin alle ihre Magazine“, warf ich ein. Man müsse den eigenen Mitarbeitern Arbeit geben, warf er zurück. Wisse ich doch. Nein, wusste ich nicht. Außerdem wisse ich doch … Nein, wusste ich auch nicht – immerhin handle es sich um das größte und älteste weltumspannende Unternehmen, das der Menschheit bekannt sei. Nein, wusste er nicht. Nach wenigen Minuten war mein Vertrag Geschichte. Der Bildschirm wurde rasch darauf schwarz.
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Meine Frau und ich sitzen im Auto, ich halte mein Smartphone auf den Knien. Sie hat mich abgeholt, von einem der immer weniger gewordenen Termine. Freischaffende werden nun seit Langem schon selten gebucht, seit der dritten Welle noch seltener ausreichend bezahlt. Im Vakuum der Pandemie bleiben viele Kalenderspalten leer. Bei der einen Spalte jedoch, der heutigen, während einer der selten gewordenen Unterbrechungen des wöchentlichen Einerleis, da exakt ertönte ein Alarm. Wäre ich hinsichtlich meiner monetären Situation vernünftig, so setzte ich in diesem Moment andere Prioritäten.
„Aber das stand, der kleine Max braucht euch“, sage ich, während meine Frau den schnellsten Weg nach Hause nimmt, um dort unser Equipement einzuladen. Sie fragt nach der Schwangerschaftswoche. „Die Fünfundzwanzigste“, antworte ich. Im Briefingforum der Sternenkindfotografen lese ich, dass Max noch lebt. Seine Eltern haben ihn taufen lassen und warten nun auf uns, um nach unserem Fotografieren die Geräte abschalten zu lassen.
„Er atmet noch“, sage ich.
Meine Frau nickt und weiß als Krankenschwester, dass wir uns umso mehr beeilen müssen, um ihn rasch von seinen Schläuchen befreien zu lassen.
„Man darf ihn nicht quälen“, betont sie.
Die Fotoausrüstung halte ich immer bereit: Aufgeladene Akkus, zwei Chipkarten, eine Akkulampe mit winzigem Lichtstrahl, dazu die Objektive und drei Kameras. Sicher ist sicher. Meine Frau packt kleine Strampler in ihre Tasche, dazu Wickeltücher und Einschlagdecken.
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Wenige Tage nach dem Bildschirmgespräch erhielt ich vom obersten Beamten des Unternehmens einen eingeschriebenen Brief zugestellt. Sehr geehrter Herr, hiermit kündigen wir den Rahmenvertrag vom 1. Jänner 2001 laut Verlängerungsvereinbarung vom 1. Jänner 2020 unter Einhaltung der vertraglich ausbedungenen Kündigungsfrist, sodass der Vertrag mit Ablauf des 30. März 2021 endet. Mit freundlichen Grüßen … Der Unterzeichner des Briefes hatte auf den Vernissagebildern neben meinen Skulpturen zum Thema Armut gestanden und in Interviews gemeint, sein Unternehmen wolle alles tun, um einen wichtigen Beitrag gegen die Verarmung zu leisten. Den anderen Unterzeichner meiner Kündigung kannte ich nicht, sein Name wurde durch die Funktion Kanzler gewichtet. Ich hatte allerdings noch nie von ihm gehört.
„Keine Zeile des Dankes“, sagte meine Frau. „Keine Zeile, die Glück und Segen wünscht für die Zukunft.“ Ich bemerkte, dass es mich nicht erstaunte, mir wäre es gar nicht aufgefallen. „So ist die Welt“, antwortete ich, „wir alle sind austauschbar geworden und auch lästig, weil teuer, die Herren haben die Gelegenheit der Pandemie am Schopf gepackt“.
Hatte man vor einigen Jahren für ein 20jähriges Jubiläum nicht die berühmte Goldene Uhr für bewiesene Betriebstreue erhalten? Wo war das ebenso berühmte billige Glas Sekt abgeblieben? Keine Verabschiedung in der Betriebskantine, zwischen Plastikstühlen und betretenen Gesichtern von Menschen, die privat wenig teilten. Vielleicht, malte ich mir aus, hätte es sogar überzuckerten Sahnekuchen gegeben, garniert mit Witzen über mein Alter. Dies alles sollte mir also erspart bleiben. Ich beschloss, den lieblosen Brief aufzubewahren als eine Art Wegmarkierung, jedoch dabei keinesfalls verbittert zurückzublicken, es wäre eine Dummheit, die meine Austauschbarkeit und damit Bedeutungslosigkeit untermalt.
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Auf dem Weg zu Max, der uns braucht, schweigen wir. Wenn wir uns auf das Kommende einstellen, beginnt die Welt zu versinken, werden Straßenverkehr, rote Ampeln, hupende Busse und drängelnde Autos zur Nebensache. Die Klinik, auf die wir zusteuern, hat uns Parkgutscheine ausgestellt. Ihr Entgegenkommen ist nicht selbstverständlich. Unlängst wollte uns ein Security-Mitarbeiter nicht durchlassen, weil wir zu zweit waren. Erlaubt seien Besuche von nur einer Person.
„Wir sind kein Besuch, wir sind ein Dienst“, entgegnete ich, „wir machen unsere Arbeit“.
Es kümmerte ihn nicht.
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26. April 2021. Taggenau vor zwei Jahren haben wir mit dem Fotografieren begonnen. Jetzt gleich werde ich Pablos Bild vom Schrank holen. So, wie ich es an seinem Sterbetag immer mache. Pablo starb am 26. April 1995 zur Welt.
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Vor wenigen Wochen erhielten wir eine Zuschrift: Seit einiger Zeit blättere ich immer wieder in Ihrem Buch. Es ist mir völlig unerwartet zugefallen. Worte, die seit fast 25 Jahren in mir unausgesprochen, unformulierbar warteten, finde ich dort, voller Dankbarkeit.
„Es ist die schönste Arbeit, die man machen kann“, sagte ich an diesem Tag zu meiner Frau.
Sie nickte, antwortete allerdings nichts. Ich meine zu wissen, wie sehr sie ihre Arbeit seit langem liebt.
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Der kleine Max braucht euch. Dennoch nimmt man uns manchmal als Fremdkörper wahr. Nicht allen in den Kliniken sind wir angenehm. Vor einigen Monaten erlaubte uns eine Hebamme, auf Wunsch der Mutter das tote Kind zu fotografieren, allerdings sei sie mit der sehr betroffenen Frau überein gekommen, dass es besser sei, selbst das Kind nicht zu sehen. So sei die Mutter nicht bei den Aufnahmen dabei. Die Bitte meiner Frau, mit der Mutter sprechen zu dürfen, stieß auf Ablehnung. Meine Frau weiß um diese fatale Situation, die von manchen Hebammen aus falsch verstandener Schonung der betroffenen Mutter sanktioniert wird. Das heilsame Halten, Streicheln, auch Waschen und Pflegen des verstorbenen Säuglings wird den Eltern dadurch verwehrt.
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Der kleine Max braucht euch. Bevor wir die Klinik betreten dürfen, müssen wir durch die Corona-Schleuse eines Baucontainers, den sie vor dem Haupteingang der Klinik platziert haben. Erneut vorbei an einem Securitymann. Er lässt uns Formulare ausfüllen und meint, die Schwester, die den Gesundheits-Check vornehme, komme gleich. Dann schickt er uns hinaus. Wir wenden ein, dass es kalt sei. Er meint, hier sei kein Wartebereich. Also treten wir in den Regen hinaus.
Eine Dreiviertelstunde später haben wir die Fiebermessung hinter uns. Wir bekommen FFP2-Masken ausgehändigt und werden gebeten, die Hände zu desinfizieren.
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Im Licht einer kleinen Leselampe studiere ich die Zeilen einer Mutter, deren Kind wir vor langer Zeit fotografierten. Sie berichtet über ihre inzwischen eingetretene Entfernung aus der Alltagswelt, ihre Entfremdung von all jenen Gefühlen und Anliegen, die sie vor dem Tod ihrer Tochter empfunden hatte und vertrat. Ihr Leben sei nun ein radikal anderes.
Verhält es sich nicht auch abseits des Todes in ähnlicher Weise? Wir alle entwickeln uns. Niemand von uns kommt der Veränderung aus – dem „Herausschälen“ eines Kerns, der ureigensten Talente und letztgültigen Fähigkeiten. Immer wieder muss ich daran denken: Der Tod eines Kindes mag dabei wie ein Brandbeschleuniger wirken. Alles, was sonst über die Zeitspanne eines ganzen Lebens hinweg geschehen wäre, geschieht schlagartig: Die unabwendbare Veränderung, die uns aus dem Haben ins Sein befördert. So vielleicht funktioniert auch ein Arbeitsleben, das 40 und mehr Jahre andauern kann, ohne welk zu werden: Vom Haben ins Sein.
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Wir begannen uns dank all der Kinder, die wir fotografieren dürfen, in kleinen Schritten aus unseren Tätigkeiten der bloßen Auftragserfüllung herauszuschälen und zu konzentrieren: Konzentrieren auf das, was uns ausfüllt und sinnvoll erscheint. Unser Leben ist durch unsere Entscheidungen ein inzwischen ausgesprochen luxuriöses geworden. Arbeit wirkt bereichernd, ganz ohne glamouröses Haben. Zugleich ist es ein Luxus, diese unbezahlte Arbeit machen zu können. Es wird mir seit der Kündigung meines Rahmenvertrages besonders bewusst. Wie lange noch?
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Ich bemerke zwei im Schatten sitzende Menschen. Geknickt, mit eingezogenen Köpfen. Die Eltern des kleinen Max, der uns braucht. Als warteten sie auf ihre Hinrichtung. Und ich weiß, so fühlt es sich an. Wie der eigene Tod. Mit jedem unserer Kinder stirbt ein Stück von uns. Immer und immer wieder. Die heroische Floskel, sein eigenes Leben hingeben zu wollen für das andere, ist bittere Wirklichkeit in solchen Momenten. Die Realität jedoch kennt keine Heldenhaftigkeit. Sie kennt nur Schmerz, Leid, Verzweiflung, Sprachlosigkeit.
Max liegt in einem Brutkasten, weich gebettet. Der Raum abgedunkelt. Max selbst hell erleuchtet. Seine winzigen Augenklappen ruhen auf dem Kissen neben seinem hübschen Kopf. Das ist das erste, das ich an ihm wahrnehme. Seine Schönheit. Sein klares Antlitz, sein feingliedriges Wesen.
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„Würde jeder in der westlichen, der wohlhabenden Welt seinen tiefsten Sehnsüchten nachgehen“, sage ich zu meiner Frau, „dann wäre sie bestimmt eine bessere“.
Meine Frau nickt, allerdings sagt sie nichts. Ich meine zu wissen, dass sie selbst bereits lange schon durch ihre Berufswahl, eine Kinderkrankenschwester zu werden, ihren ganz persönlichen Schritt in die Zufriedenheit gesetzt hatte.
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Wir begrüßen uns. Die Eltern des kleinen Max, der uns braucht, beginnen zu weinen, denn nun ist es gewiss: Nach unseren Bildern werden die Geräte abgeschaltet.
„Weinen Sie“, sagt meine Frau, als der Vater sich beschämt abwendet.
Und dann beginnen wir, zu tun, wozu man uns gerufen hat. Die ersten Aufnahmen des kleinen Buben entstehen. Klick. Meine Hand greift nach der meiner Frau, die unsere winzige Lampe hält. Ich führe sie an die für das nächste Bild notwendige Stelle. Ihre Hand folgt meinem Druck ohne jeden Widerstand. Klick. Sie lässt sich weiterführen, sanft, gleitend, wir sind ein eingespieltes Paar. Klick. Mein Versinken in den Bildern gleicht einer sekündlich einsetzenden Meditation. Ich weiß, dass es meiner Frau ähnlich ergeht. Klick. Da sind nur noch Max und wir. Klick. Seine in einen Tupfer gewickelte Hand. Klick. Ein Schlauch aus seinem rechten Nasenflügel. Klick. Sein zarter Unterschenkel, in dem eine winzige Venenkanüle steckt. Klick. Seine geschlossenen, fein geschwungenen Lippen, in die ein weiterer Schlauch führt. Klick. Ein Kabel, quer über seinem Bauch. Klick. Dann die Hand des Vaters, ruhend auf der Stirn des kleinen Buben. Klick. Zwei Finger der Mutter, greifend nach der Hand des Jungen. Klick.
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Wir bleiben lange bei Max, diesem kleinen Erdenmenschen. Mehr als drei Stunden werden vergehen. Mehr als 300 Bilder werden wir am Ende zählen. Alles wird fotografiert sein, dokumentiert für die Eltern des zarten Menschenlebens. Für ein Paar, das sich seit vielen Jahren ein Kind wünscht und nun ihr erstes ins Sterben begleiten muss. Ich werde den Eltern Aufnahmen zuschicken von der Krankenschwester, die Kabel und Schläuche entfernt, Bilder von ihrer Kinderärztin, die einen Monitor betrachtet, um dann, etwas später, beim Abhören des kleinen Körpers in den Armen der Mutter, zu flüstern, der kleine Max sei nun gestorben. Ich werde Bilder zusenden, die zeigen, wie sein Körper gehalten, geküsst, gewaschen und gekleidet wird.
Und wieder werde ich mir während all dessen ein Bild davon machen können, worauf es abseits der Sehnsucht nach den lachenden Augenblicken des Lebens tatsächlich ankommt, in unserem Dasein, in unserem Streben nach Gesundheit und Glück. Ich werde erneut spüren, dass unser Aufgehen in einer Aufgabe unendlichen Ausmaßes jeden Moment dieser Arbeit wert ist. Ich werde wieder und wieder wissen: Dieses Leben stand für meine Frau und mich immer schon bereit. Ein Leben im Schatten des Todes.
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Ein anderer Tag. Klick. Das winzige Mädchen trägt einen Fingerling als Käppchen. Von meiner Frau gefertigt. Klick. Ihre reiskornlangen Finger ruhen auf dem Zeigefinger der Mutter, es ist mir ein wichtiges Bild, das ich gerne einrichte: Die Hand des Mädchens in die der Mutter gelegt. Ich greife wortlos nach der Hand des Vaters, lege auch dessen Finger dazu. Klick. Das ist unsere Bestimmung.
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Sich zu verlieren in einer Aufgabe ist die höchste Schule des Arbeitens.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text
horst mayer
14. September 2021 um 19:38
Es war sehr viel und gut geschrieben, es sind einige tiefgrüdige teile drinnen und ich werde es einige male punkt für punkt durchlesen müssen.eshat teilweise ganz schöne tiefenwirkung.
Rainer Juriatti
14. September 2021 um 22:25
Danke!