Erklär mir, was normal ist
von Rainer Juriatti
In unserem Garten steht ein Schild. „Konstant nur ist Veränderung“. Ich habe mir die Tafel gestaltet, um mich jeden Tag daran zu erinnern, dass nichts im Leben fix ist. Inzwischen frage ich mich immer wieder: Was eigentlich meinen die Menschen, wenn sie davon sprechen, die Pandemie habe ihre Normalität geraubt? Ist „Normalität“ ein Konstrukt, das sich nicht verändert? Darf nur ein Garten sich ständig verändern?
Oder ist „Normalität“ doch nur ein leerer Begriff? Denken Sie nicht auch manchmal bei Betrachten alter Fotos: Wahnsinn, da habe ich noch geraucht? Oder: Irre, damals habe ich null Sport gemacht, man sieht es mir an. – Was gestern „normal“ war, ist es heute nicht mehr. Ein 20-Liter-Auto war in meiner Kindheit auch normal. Heute gehört es doch eher verboten, nicht? Wer bestimmt somit, was normal ist? Richtig: Wir selbst.
Heute jedenfalls gehört es zur Normalität, von mir lieben Menschen Belehrungen zugeschickt zu bekommen, die mir sagen, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen sei gesundheitsgefährend, ja mit Sicherheit tödlich. (Ich verweise auf die vielen toten Operateure in den Spitälern des 20. und 21. Jahrhunderts, die starben und sterben ja traditionell den Atem-Selbstinfektions-Tod - deshalb der Ärztemangel.) Es gehört heute zur Normalität, wenn wir alle irgendwo hören oder lesen, es gebe Impfdurchbrüche, die Impfung helfe somit bei niemandem. (Ohne Verweis auf die Vorerkrankungen der betreffenden Menschen, glücklicherweise hatte der Wendler mit seiner Ankündigung nicht recht und wir haben alle knapp aber doch den September überlebt.) Es gehört heute zur Normalität, dass Impfgegner die Opferrolle einnehmen, indem sie behaupten, zum ersten Mal in der Menschheit seien sie schuld an der (vermeintlichen) Unwirksamkeit eines Impfstoffes. Es gehört heute zur Normalität, dass Ungeimpfte immer und immer wieder Worte wie „Nürnberger Codex“ sowie Bilder von Armschleifen der Nazizeit bemühen, um ihre Verfolgung zu untermauern. (Hierzu fällt mir keine witzige Bemerkung mehr ein, Bitternis nämlich erfasst mein Herz.)
Die Pandemie hat unsere Gesellschaft gespalten. Gerne wird dafür die Regierung verantwortlich gemacht. Sie habe uns unserer „Normalität“ beraubt. Welcher? frage ich mich. Die, die wir uns selbst jeden Tag schaffen? Was, frage ich mich, war unsere „Normalität“? Parties? Autorennen? Müllhaufenschaufeln? Ausbeutung armer Länder? Grenzenbau gegenüber Migranten und Flüchtlingen? Was war unsere „Normalität“? Die Pandemie hat unsere Freundschaften belastet und beendet, die Pandemie hat Paare und Familien auseinandergebracht. Weswegen? Weil wir alle vielleicht zu verbohrt und starr sind, um mit einer greifbaren, umfassenden und tödlichen Viruserkrankung umzugehen, die wir uns selbst geschaffen haben? Was also ist unsere „Normalität“? Vielleicht die, dass wir alle Bestien sind?
Ich weiß nur, dass meine „Normalität“ als Künstler immer die gewesen ist, niemals an etwas festzuhalten, da alles mir Geschenkte von heute schon morgen wieder vorbei ist. Es stimmt. Gestern noch designte ich für Krankenhäuser wunderschöne Räume, heute gehe ich als Tagelöhner durch die Welt. (Marie Luise Kaschnitz, sinngemäß: Wer von uns kann schon gewiss sein, dass wir nicht morgen schon in Mülleimern graben?).
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text