Sechzig, scheiße was?
von Rainer Juriatti
Unlängst führte ich einen Monolog auf, in dem die folgende, kurze Feststellung getroffen wird: „Sechzig, scheiße was?“ – Und ich denke mir: Find ich eigentlich nicht. Überhaupt nicht. Allerdings fliegt uns Selbige um die Ohren und wird uns schließlich auslöschen.
Sechzig. Das ist eine wunderbare Zahl. Viele Menschen, denke ich, werden nicht einmal ansatzweise so alt. Ich bin es nun geworden. Sechzig. Und im Blättern durch meine Fotoalben sehe ich, wie die Jahre verflogen sind. Sie waren, schaue ich das Bild von mir als Vierjährigen an, von Kostümierung und Rollenspielen geprägt. Mit acht Jahren stand ich im Spielwarenladen meines Vaters, als Prinzession kostümiert und meinte: Ich möchte Schauspieler werden.
„Mein Leben der Kunst“, könnte man das Bild von 1978 folglich betiteln, auf dem ich auf einer primitiven Bühne zu sehen bin. Es waren mehr als 500 Menschen da, um zuzusehen. Schultheater halt. Das Mädchen, das darauf zu sehen ist, hieß Ruth und war die erste ernstzunehmende Person, die ich geküsst habe. Und beim Bild aus dem Jahr 1985 ist Markus zu sehen. Wir haben an einem Bühnenstück herumexperimentiert, das natürlich niemals aufgeführt wurde. Mit Markus habe ich drei Jahre später einen Filmpreis gewonnen und habe mich gefreut, als er mein Trauzeuge wurde. Das Bild von 1988 zeigt die Braut: Vera, die mich an einem Filmset für einen Kurzfilm unterstützte, in dem ich die Hauptrolle spielte. Vera und ich sind bis heute zusammen, die Wege meines Trauzeugen und mir haben sich allerdings getrennt, er ging zu den Festspielen Bregenz, wo er heute noch tätig ist. Manchmal denke ich, was wohl aus uns, dem Filmduo, geworden wäre. Jedenfalls trieb ich mich weiter beim Film und im TV herum, experimentierte mit Videokunst und Malerei, bis ich schließlich beim Schreiben landete. Erst ab dem Jahr 2007 ist ein als stringent zu bezeichnender Weg über die Literatur zurück auf die Bühne und schließlich in meinen Abschluss im Bühnenfach Schauspiel zu erkennen.
Ich habe auf meinem Unterarm einen Satz von Peter Handke eintätowiert: Langsam werde ich und alles nimmt uns die Zeit. Erst heute, mit Sechzig, bin ich scheinbar angekommen.
Sechzig. Eine herrlich befreiende Zahl. Viele, ja allzu viele Menschen haben nicht an mich geglaubt, haben mich als Spinner abgetan und tun es heute noch. So ist im Laufe dieser sechzig Jahre die Zahl derer, die mich kreuzweise können, immens angewachsen. Ob in der Kunst, im Gesang, in der Literatur, im Design – all diese bedauernswerten Wesen eint das Eine: Sie sind zerfressen von Neid und Missgunst und werden in totaler Verbitterung altern. Ich werde das nicht, denn oft wandle ich Handkes Satz für mich ein klein wenig ab: Langsam werde ich und es ist nicht aufzuhalten.
Sechzig. Die Zahl derer, denen ich zu hundert Prozent vertraue, ist auf ein Minimum geschrumpft. Sechzig bedeutet, nichts einfach nur so hinzunehmen. Sechzig heißt, die Politik auf keinen Fall ernst zu nehmen, schon gar nicht die österreichische. Sechzig ist die Erkenntnis, dass die Welt definitiv an nichts anderem als dem Menschen zugrunde gehen wird. Sechzig bedeutet, zu erkennen, dass es kein gottgewolltes Regulativ gibt, sonst wären Kim Jong Un, Putin, Baschar al-Assad, Trump - all diese dummen Menschen, längst von der Erde verschwunden. Doch sie treten nur das Erbe jenes Österreichers an, der in den Dreißigerjahren in Deutschland groß, mächtig und einflussreich geworden ist, um die Welt zu zerstören.
„Sechzig, scheiße was?“, so also der Monolog-Satz, den ich auf der Bühne aussprechen durfte. Danach sagt die Figur: „Aber die richtige Scheiße, die kommt ja erst.“ Ob das auf mich zutrifft, das kann ich glücklicherweise nicht wissen. Ich hoffe nur, dass die Liste derer, die mich „Götz von Berlichingen“ können, möglichst nicht mehr länger wird. Weil ich den richtigen Menschen begegnen möchte und meine Kunst noch lange in guter Gesundheit machen will.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text