27. März 2020 - Keine Kommentare!

Randnotiz: Anspielen gegen die Realität

Randnotiz: Anspielen gegen die Realität
Rainer Juriatti

Erwache ohne Schlussapplaus. Hinter der Bühne geht es zu wie auf einem marokkanischen Basar.
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Erwache ohne Schlussapplaus. Hinter der Bühne geht es zu wie auf einem marokkanischen Basar. Hunderte Menschen stehen im Weg, es gibt kein Durchkommen, mancher Basarhändler lacht uns sogar aus. Weder die großartige Nadja Stefanoff, mit der ich grad noch eine schöne Schlusssituation spielen durfte, schafft es auf die Bühne, noch Will Hartmann oder Dshamilja Kaiser, mit denen mich eine (ebenso wenige Minuten zuvor mimisch zu verkörpernde) Sequenzbegegnung verbindet, schaffen es zum Applaus. Irgendwie ist alles durcheinander und wir sind es auch. Sogar der Backstage-Regisseur Peter "Flo" Kutey – unser Ruhepol schlechthin – kennt sich nicht mehr aus. Alle sind komplett aus dem Häuschen, der Schlussapplaus bleibt uns verweigert.

Mein Wecker zeigt 5.50 Uhr. Ich bin hellwach und traurig. Nicht meinetwegen. Der verweigerte Schlussapplaus für die vielen sympathischen und großartigen Künstler macht mich traurig, gemeint sind alle, auch Opernsängerinnen wie Tetiana Miyus, von der hier schon einmal die Rede war, oder die Regisseurin selbst, Nadja Loschky, die wochenlang das wohl Beste aus uns allen herausgeschält hat.

Anspielen gegen die Realität ist nicht möglich, erkenne ich. Europa erstarrt seit 14 Tagen. Anfang März allerdings standen wir – die in meinem wirren Traum Vorkommenden und Dutzende andere – alle noch auf der Grazer Opernbühne. Im Grunde ahnten wir bereits, dass nichts aus der Premiere werden wird. Dennoch spielten wir an gegen die herannahende Erstarrung. Wir taten, als glaubten wir an eine Premiere. Anspielen gegen die Welt, so, wie ich es in „Die werten Herren“ im Jahr 2017 beschrieb. Hier wurde es Realität. Anspielen gegen die Welt. Romantisch genug, um von Erfolglosigkeit gekrönt zu werden.

Bühnenmenschen wie wir werden den Lauf der Dinge niemals ändern können, wir bleiben dazu verdammt, uns mit ihrer Reflexion zu begnügen, einzuschreiten ohne tatsächliche Einschreitung, dann nämlich, wenn es zu spät ist. So, wie es „Die Passagierin“ tut, 75 Jahre nach den Ereignissen. Sie und alle Mitwirkenden hätten sich einen Schlussapplaus verdient.

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text

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