2. Juli 2018 - Keine Kommentare!

Die Sonne scheint,trotzdem

Die Sonne scheint, trotzdem
von Chefredakteurin Dr. Daniela Müller, "Die Steirerin"

In "Die Steirerin" war im Juni 2018 auf den Seiten 20-21 eine Reportage zu lesen, verfasst von Chefredakteurin Dr. Daniela Müller. Die Chefredakteurin des Monatsmagazins nahm sich sehr viel Zeit, um Vera und mich im Atelier zu besuchen und ein ausführliches Interview zu machen, das sich nach und nach zu einem tief gehenden, schönen Gespräch entwickelte. Das Ergebnis daraus liest sich wie folgt:

Pablo wäre heuer 23 geworden. Wie jedes Jahr hat sein Vateram 26. April, dem Geburtstag, sein Foto genommen, es auf denKamin gestellt und eine Kerze angezündet. Wie jedes Jahr betrachtet er das Polaroidbild, das seinen Sohn zeigt, der aussieht wie er. Pablo hat die Welt nie gesehen. Das Foto zeigt ein totes Kind. „Pablo starb zur Welt“, sagt sein Vater.

Pablo hat es nicht geschafft, wie die vier anderen Kinder, die Vera Juriatti hätte bekommen sollen. Die Herzen der Sternenkinder hörten einfach auf zu schlagen, sie gebar Pablo tot in der 25. Schwangerschaftswoche. Und hier höre ich auf, zu schreiben, weil die Buchstaben verschwimmen. Schaue aus dem Fenster, denke an das Gespräch mit Vera und Rainer, ihrem Mann, einem Autor, an meine Freundin, die ihr Baby verloren hat, den Mutter-Kind-Pass gab es schon. Denke an mein Kind. Und ich frage mich: Wie verkraftet man so etwas überhaupt? Was, wenn nur das gelbe Büchlein und Ultraschallbilder an die Existenz des Kindes erinnern?

Meine Freundin beklagte sich, dass über das Thema Sternenkinder niemand reden wolle. Dass ihr Partner irgendwann aufgehört habe, ihre Trauer zu verstehen. Rainer Juriatti kennt das Gefühl zu gut, auch er wusste oft nicht, wie er seiner Vera helfen konnte. Er hat ein Buch darüber geschrieben, wie es ist, mit dem Schlimmsten zu leben, das man erleben kann, indem man ein Kind, Kinder, verliert. „Du musst ihn lieben, denkst du, solange du hier bleibst, damit nur ein einziger Mensch ihn liebt“, mit diesem Satz beginnt sein Buch. 20 Jahre hat es gedauert, bis er die Position des Erzählers einnehmen konnte. Denn er wollte kein Betroffenenbuch schreiben, keinen Ratgeber. Er wollte Pablo eine Stimme geben, ihm eine Geschichte schenken. Die haben Sternenkinder nicht. „Es gibt keine Erinnerungen, du kannst nicht sagen: ,Weißt du noch, mit Opa, das Schwammerlsuchen‘“, sagt Rainer Juriatti. Pablo lebt über das Buch. Das Schicksal der Sternenkinder liegt in einem peinlich berührten Nichterinnern, Nichtreden. Vera sagt: „Der Tod ist nun einmal unangenehm.“ Sie betreut die Facebook-Plattform ihres Mannes und dort landen immer wieder Meldungen von Frauen, die sich fragen, ob sie Mama sind, auch wenn ihr Kind das Licht der Welt nicht erblicken konnte. „Ja, das bist du!“, antwortet Vera dann. „Du bist Sternenkindmama! Feiere deinen Muttertag!“

Am Tag unseres Gesprächs – es ist ein Montag nach einem strahlend schönen Muttertag – regnete es in Strömen. Rainer und Vera Juriatti erzählen. Wie die ersten beiden Kinder es über die zwölfte Woche nicht hinausschafften, wie Sohn Tonio, heute 25, zur Welt gekommen war, wie ein Embryo ganz früh ging, dann Pablo starb, ein weiteres in der zehnten Schwangerschaftswoche ging und am Schluss die Tochter Chiara kam, die heute 21 Jahre ist. Von den fünf Sternenkindern hatte nur Pablo einen Namen. Für seine Geschwister Tonio und Chiara ist Pablo der Bruder, der nicht bei ihnen sein konnte, dessen Grabstein ein Apfelbaum in der alten Heimat Vorarlberg war, den die Familie gepflanzt hatte, weil Totgeburten damals keine Beerdigung zustand. Tonio, der Kunstturner, zeigte dem Apfelbaum seine Medaillen; Chiara gab den vier anderen Sternenkinder Namen, alle mit C, Mädchennamen, sie war sich sicher, dass sie Schwestern bekommen hätte.

Man möchte Empfehlungen hören, möchte erfahren, wie Eltern einen solchen Schicksalsschlag verkraften. Stattdessen hört man Geschichten, und nichts bleibt scheinbar dem Zufall überlassen. Vera erzählt, wie sie in tiefer Trauer war und sich das erste Jahr nach Pablos Tod an so gut wie nichts erinnern konnte. Wie sie in ihren Beruf als Kinderkrankenschwester zurückgekommen war und eine Frau vorfand, der dasselbe Schicksal bevorstand, nämlich ein totes Kind gebären zu müssen. Wie sie dieser Frau Geburtshilfe leistete, das Kind empfangen hatte und damit ein Stück weit auch ihren Pablo gehen lassen konnte. Rainer erzählt vom Apfelbaum, dessen Äste nach dem Umzug in die Steiermark zu einem neuen Baum veredelt wurden, von einem Gärtner, der selbst Vater von Sternenkindern war. Rainer erzählt die Geschichte von der Polaroid-Kamera, mit der er nach der Geburt ein Foto von seinem toten Sohn machen wollte, zur Erinnerung, und die ihm der Arzt mit den Worten „die ist aber kaputt“ gab, er sie reparieren konnte und genau ein Bild herauskam, bevor das Gerät ganz den Geist aufgab. „Als gläubiger Mensch mag man vielleicht sagen: ,Gott hat uns dieses Bild geschenkt.‘ Ich sage: Ich habe Glück gehabt“, betont Rainer Juriatti. Dennoch hat er mit Gott gehadert die ganze Zeit über, für Vera hat sich lediglich die Qualität der Trauer erinnert; auch wenn man nicht mehr jeden Tag weint, ist die tiefe Trauer noch immer da.

Pablo hat seine Eltern durch tiefe Täler geführt, an den Rand der Paar-Existenz.Genauso hat er ihnen Kraft gegeben, weiterzugehen. Pablo hat die Familie, die nie ihren Humor verloren hat, zusammengeschweißt. Vera hat eine Palliativausbildung absolviert, ihre eigene Geschichte hat sie stark genug gemacht, um andere Menschen in den Tod begleiten zu können. Rainer schrieb sein Buch. Den Apfelbaum in Vorarlberg gibt es nicht mehr, die neue Hausbesitzerin ließ ihn fällen. „Das ist gut so“, sagt Rainer und schmunzelt, „sie war uns eh nicht sympathisch.“

Hier geht's zu den Workshops sowie Lese- und Aufführungsterminen aus "Die Abwesenheit des Glücks".
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Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

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