Gott sei ein Sadist, behauptet mein Mann
von Vera Juriatti
27. Oktober. Der 18 Wochen alte G. 31. Oktober. Der kleine T., 22 Wochen alt. Sein Vater sagt: Sternenreiter. 4. November. Sie kannten sein Geschlecht bis zur Geburt in der 22. Woche nicht. 5. November. Nur 29 Wochen alt wurde die hübsche E. 6. November. Die kleine M., 23 Wochen alt. Ein Frühchen, intubiert, extubiert. Verstorben. Die Mama im Koma. Sie alle durften wir fotografieren. Rainer behauptet seit vielen Jahren, es gebe entweder tatsächlich keinen Gott und wenn doch, dann sei er ein Sadist, mit dem er nichts zu tun haben will. Seit gestern pflichte ich ihm bei.
Fetozid. Kein sehr geläufiges Wort. Da es das Schrecklichste benennt, das einer Sternenkindmama widerfährt: die bewusste Entscheidung nämlich, das Baby im Bauch töten zu lassen. Christine schrieb letzte Woche darüber, über ihren Sohn Jonas Fabian. Fetozid. Als Christine von ihrem Kind erzählte, erlaubte sie uns, die Geschichte auf unserer Seite zu veröffentlichen. In der Nacht darauf setzte sich Martina an den Schreibtisch und schrieb sich den Fetozid an ihrem Sohn Max von der Seele. „Einige Jahre ist es her“, notierte sie, „als ich in der letzten Reihe in der Kirche in Andelsbuch Platz nahm, um Rainer beim Lesen und seinen Kollegen beim Musizieren zuzuhören“.
Wir können uns gut daran erinnern, die Kirche war brechend voll gewesen. Viele Menschen nehmen an Lesungen teil. Weil sie nicht öffentlich sprechen dürfen. Weil wir alle immer noch nicht öffentlich leiden dürfen. Auch Martina litt bis letzte Woche. Still. Heimlich. Nur für sich. Und dann schrieb sie uns von ihrem Sohn, der ein Teratom – einen sogenannten Zwilling – in seinem Rachen trug. Keine Aussicht auf ein Leben nach der Geburt. Den Erstickungstod vor sich, sobald er selbst atmen würde müssen. Die Ärzte rieten zum Fetozid.
„Bitte, lieber Gott“, schrieb Martina, „lass nicht uns entscheiden müssen, was zu tun ist. Wir können unser Kind doch nicht töten.“ Doch da war kein Gott. Oder eben besagter Sadist. Während einer Untersuchung ließ man Martina keine Wahl mehr. Auch sie werde sterben, sofern man ihren Sohn nicht sofort töte. „Er konnte kein Fruchtwasser mehr schlucken“, erzählte uns Martina in ihrem langen Brief, „da das Teratom in seinem Rachen rasant wuchs. Lebensgefährlich für mich. Daher also mein schnell wachsender, großer Bauch. Zwei Tage später war es so weit. Was dazwischen war, weiß ich nicht mehr, die Tage und deren Gefühle sind ausgelöscht. Doch der 15. Jänner 2010 ist da. Es ist der Tag, an dem Maximilian gestorben ist. Doch Maximilian wollte bis zum Schluss nicht sterben. Was zwei Minuten dauern sollte, dauerte 20 Minuten. Er wollte nicht. Er drehte sich, immer und immer wieder. Er drehte sich immer wieder weg. Der Arzt hatte Mühe, die Spritze in sein Herz zu führen. Die Anspannung im Raum berührte alle. Den Arzt, die Assistenzärztinnen, die Krankenschwestern. Alles war ruhig, fast unheimlich still. Nur ich zitterte, bebte, weinte, krampfte, wehrte mich.“
Ich denke, niemanden lassen diese Worte kalt. Außer Gott natürlich, den kümmert das nicht. Der liefert auch keine Antworten. Die Antworten suchen wir uns selbst. Ergründen die Botschaft hinter unseren Biografen. Wandeln das Schlimmste ins Positive, um uns nicht sofort selbst töten zu müssen. Sind allerdings innerlich mitgestorben, werden niemals mehr die selben sein.
Gestern Abend waren wir bei Marie. In den Vormittagsstunden hatten die Ärzte das kleine Kind durch Kaiserschnitt zur Welt holen müssen, da sonst beide gestorben wären. Für Marie bestand eine geringe Hoffnung, dass sie es schaffen könnte. Noch immer liegt die Mutter intubiert, kämpft um ihr eigenes Leben. Der Vater allerdings saß bereits am Abend verloren neben seiner toten Tochter. Vollkommen allein gelassen, in einem kleinen Kämmerchen, Marie im Neonlicht der Wärmelampe, die sie nicht mehr braucht. Sie hatte es nicht geschafft. Gott ist das egal. Gott ist auch der Vater des hübschen Mädchens egal, und Gott wird auch die um ihr Leben kämpfende Mutter egal sein. Als wir dem Vater Trost zusprechen wollten, es helfe das Hoffen und Beten, meinte er, Zweites könnten wir weglassen. Mein Mann sagte: Recht hat er.
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Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text
Monika Karner
8. November 2021 um 02:59
Liebe Vera,
diese Erlebnisse zu lesen ist herzzerreißend. Ich kann nur allen Betroffenen viel Kraft und Liebe wünschen.
In Deinen Augen Vera sah ich den Schmerz.
Wer kann da noch an Gott glauben. Die Geschichte mit meinem Sohn hat auch meinen Glauben zerstört. Und sehe ich wieviel Schlimmes sonst noch in dieser Welt passiert wundere ich mich, dass noch jemand an einen gütigen, barmherzigen Gottvater glauben kann.
Dir und Rainer liebe Grüße
Monika
Martina (Mama von Maximilian)
9. November 2021 um 13:59
Danke liebste Vera für dein Gespür im Umgang mit Worten, die trefflicher nicht sein können. Hab Dank dafür, dass du Maximilian hier einen Platz gegeben hast – passender hätte es nicht sein können.
„Wir werden niemals dieselben sein.“
Christine
9. November 2021 um 16:53
Liebe Vera, liebe Martina und liebe Mütter und Väter, um die es hier in diesem Beitrag geht.
DANKE für das Teilen und Aufzeigen, was Leben alles sein kann und was Leben alles ist. In solchen Situationen ist es eine große Stütze Menschen um sich zu haben, die ruhig, im Herzen sind und Anteilnahme aussenden. Präsent zu sein kann soviel bewirken.
Liebe Martina! Ich bin begeistert von deinem Schritt, deine Erlebnisse ans Tageslicht zu bringen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das eine Herausforderung war. Doch was muss es dich an Kraft gekostet haben es so lange in die zu halten und es über 10 Jahre mitzutragen? Maximilian ist jetzt in unserer Mitte und wird gesehen und gehört. Mit allem was er war und ist.
DANKE!