Ihre Gesichter in Scherben
Rainer Juriatti
Am Abend waren es winzige Finger, die ich in meine Finger nahm, um sie auf dem Finger der Mutter zu platzieren. Mittags war es ein Baby kurz vor dem Geburtstermin gewesen. Fotos für die Ewigkeit. Auf dem Weg vom einen zum anderen Fototermin dachte ich mir: Was für ein Tag.
Dennoch komme ich nicht wirklich dahinter. Manchmal möchte ich laut schreien: „Was, in Gottes Namen, ist mit dir los?! - Was stimmt nicht mit dir, guter Mann?!“ Mir macht das nämlich lange schon nichts mehr aus. Dieses ständige Mäandrieren zwischen Bildern des Todes und unserem (Alltags)Leben, unserem Dasein, das kaum Wünsche offen lässt.
In „Die Abwesenheit des Glücks“ schreibe ich davon, ganz generell: von diesem Leben, das uns privilegierten Menschen in Europa im Grunde alles ermöglicht. Zugleich sind wir vom Tod umgeben. Besonders in den letzten Tagen habe ich viele Fotorufe erhalten: Da ein Kind, dort ein Kind. Permanent geschieht es und permanent werden Vorfreuden von Eltern erschüttert und enttäuscht. Der Tod wartet hinter jeder Hecke, lauert allerorts und nimmt keine Rücksicht auf Träume und Wünsche junger Eltern.
Was für ein Tag also. Bereits am Morgen erhielt ich von jener Mutter, die ich am 11. November unter „Ein Satz, der mir plötzlich auffällt“ veröffentlichte, erneut einen langen Brief. Sie schreibt über ihr Entfernen aus der Alltagswelt, ihre nunmehrige Entfremdung von all jenen Gefühlen und Anliegen, die ein normaler Mensch so an den Tag legt. Sie bestätigt, dass jede Zeile, die ich in „Die Abwesenheit des Glücks“ dazu notiere, wahr sei: das Leben sei nun radikal ein anderes.
Aber ist es nicht auch abseits des Todes so? Wir dürfen uns entwickeln. Das fällt mir dazu heute ein. Ganz generell meine ich das: Wir entwickeln uns weiter. Nur so kann ich mein Aufschreien in den Badezimmerspiegel, meine Anfrage an mich selbst, was wohl mit mir los ist, am ehesten erklären.
Ich habe mich dank all der Kinder, die wir selbst verloren, habe mich dank all der Menschen, denen wir bei den Lesungen begegnen und nicht zuletzt jenen Kindern, die ich nun fotografieren darf, in kleinen und großen Schritten weiterentwickelt. Der Tod eines Kindes setzt dabei - meine ich - naturgemäß einen besonders großen Schritt, ob man will, oder nicht.
Und für mich, ganz persönlich, für mich als Mitgehenden oder Immernochgehenden, stand nie die Verdrängung auf dem Plan. Mit jedem Kind, das ich fotografiere, verändere ich mich und wende mich inzwischen noch radikaler jenen Dingen zu, die für mich entscheidend und wichtig sind. Sie schenken meinem Dasein ihr Profil, ein für andere zwar kantiges vielleicht (und bei einigen ein definitiv unerträgliches), aber für mich wohltuendes.
Gestern also: Was für ein Tag! – Ich sah zwei Mütter, ich sah zwei Väter, ich sah ein paar Angehörige, die einen großen, schmerzvollen Veränderungsschritt gehen mussten. Das Leid in ihren Gesichtern ist schrecklich anzusehen und meine Frau und ich hoffen jedes Mal für sie alle, dass sie ihren Weg gehen können, ohne am Tod ihres Kindes zu zerbrechen. Ihre Gesichter liegen in Scherben: daraus lässt sich bestenfalls bald etwas Neues ablesen.
PS: Und wenn die Welt das kapieren würde, wäre sie bald schon eine andere.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text