1. November 2016 - 5 Kommentare

Kein leeres Grab

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Allerheiligen: Kein leeres Grab
Rainer Juriatti

Vor 21 Jahren starb unser Sohn. Er trug einen Namen. Er hatte gestrampelt. Manchmal gestoßen. Er hörte meine Lieder, die ich ihm sang. Er hörte die Stimme seines Bruders. Er hörte den Herzschlag seiner Mutter. Er hatte ein Leben.

Kein Grab haben sie uns gegeben. Die Zeit sei nicht so weit, hieß es. Heute schenkt man Kindern wie unserem Sohn einen Ort, an den Eltern gehen dürfen. Um zu weinen, um zu reden, um bei ihrem Kind zu sein. Damals gab es das nicht. Kein Grab haben sie uns gegeben, um es mit unserem Sohn zu füllen. Die Zeit sei nicht so weit, hieß es. Kein Ort. Der chronische Schmerz begleitet unser Leben.

Wir bleiben Allerheiligen zu Hause. Keine Teilnahme an der jährlichen Modeschau. Ich würde sogar meine neueste Hose ausführen, an Tagen wie Allerheiligen, um am Grab meines Sohnes stehen zu können. Menschen, die ein Sternenkind betrauern, wissen das: Meine Frau und ich zählen die Jahre, ganz heimlich, stellen uns vor, wie unser Sohn gewachsen wäre, was er mit Sechs, mit Acht, mit Fünfzehn gemacht hätte. Sternenkind, Sohn. Die Zeit sei nicht so weit, hieß es. Kein Ort. Dennoch freuen wir uns an unserem Sohn. Lächelnd betone ich manchmal stolz, er habe mir ähnlich gesehen, nicht zu leugnen, dass ich der Vater sei. Ich habe ihn geliebt an seinem Geburts- und Sterbetag, so, wie man ein Kind liebt, das leben darf. Die Zeit sei nicht so weit, hieß es. Verbrannt haben sie ihn.

Mein Sohn hat einen Namen. Seine Geschwister sind mit ihm aufgewachsen. Obwohl er nicht da war. An jedem Geburts-Sterbetag denke ich an ihn. Anstelle eines Grabes blühen die Zweige zweier Apfelbäume in unserem Garten. Wir freuen uns an ihm. Äpfel anstelle eines Grabes. Und dennoch: Ein Bild ist uns geschenkt, ein einziges Polaroid. An jenen Tagen, an denen andere an die Gräber gehen, da stellen wir es auf. Doch er ist uns nicht näher an solchen Tagen. Unsere Kinder sind uns immer nah. Ob sie da sind oder nicht. Sie sind unser Leben, so, wie der Tod eines Tages auch der unsere sein wird.

Graz, November 2016

Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text

Kommentare

Marlene Solèr-Häusle
1. November 2016 um 10:18

Lieber Rainer,
ich bin Dankbar dafür dass du Euren Schmerz (u) und die gesellschaftlichen Tatsachen (allein gelassen zu werden, weil…was nicht sein darf ist nicht) öffentlich machst <3. Unser Sohn ist mit 7 Jahren an Leukämie erkrankt. Sein Bruder war als 5 Jähriger Knochenmarkspender für ihn. Wir haben gemeinsam 4 Jahre intensiv gekämpft und David ist heute als 26 Jähriger sehr inspiriert. Wir hatten das Glück von Liebe getragen zu werden und an ein Leben vor und nach dem Erdenleben glauben zu können. Unsere Familie ist dennoch zerbrochen, unsere Partnerschaft könnte nicht standhalten. Erst heute, nach etlichen Lebenskriesen, sind wir fähig bewusst mit unserem Schmerz umzugehen, uns von dem Trauma zu befreien, uns zu versöhnen und wieder zusammenzuhalten.
Danke Rainer für Deine Offenheit. Liebe soll euch weiterhin begleiten!

Rainer J.
2. November 2016 um 10:11

Liebe Marlene,
unendlich dankbar schreibe ich eine Antwort, denn – verzeih – eines thematisierst du auch: Besonders die Partnerschaft selbst wird mit Füßen getreten. Was nicht sein darf, das ist nicht. Eltern bleiben dann allein. Niemandem ist ermessbar, was es für dich, den kleinen Bruder, deinen verstorbenen Sohn – dich und deinen damaligen Mann – jeden Tag (!) bedeutet hat, zu leiden, zu hoffen, zu zerbrechen. Als wir unser viertes Kind verloren hatten, da meinte ein Arzt, er kenne kein Paar, das nach so viel Leid noch zusammen sei. Wir haben damals nicht gewusst, was wir antworten sollen. Wir wissen es auch heute noch nicht wirklich, was uns zusammenhielt. Wir kennen die dunklen Partnerschaftsstunden sehr gut. Sie haben lange, sehr lange angehalten. Voller Hochachtung möchte ich dir anlässlich deines offenen Briefes an mich mein Beileid aussprechen und verneige mich.

Marlene
2. November 2016 um 20:18

Lieber Rainer,
danke Dir für dein liebevolles Antwortschreiben!
Du hast etwas missverstanden, wir hatten nähmlich mehr Glück als ihr. David, unser damals an Leukämie erkrankter Sohn, ist gesund geworden und bald MASTER IN ART OF GAMEDESIGN. Dein Mitgefühl tut mir gut, dein Beileid ist GOTT SEI DANK nicht angebracht.
Die Erinnerung an die traumatische Zeit und die Angst um unsere 2 Kinder ist sehr lange geblieben, sie hat mich fast zerstört. Dann war 2009 die Ehescheidung. Ich war niedergedchmettert. Hsbe neu begonnen… Vor 2 Jahren ist dann Davids einziger Bruder Fynn, (“Lebensretter” und Sonnenschein in der schweren Krankheitszeit) in Bolivien von einer schweren Depression gequält worden, ich bangte um sein Leben. Heuer im Februar hat mich dann mein Vertrauen verlassen und ich konnte der Belastung nicht mehr standhalten und habe deshalb meinen Job verloren.
Im Moment sind beide Söhne, zu meiner Freude, vom Studium zu mir heimgekehrt und wir können jetzt endlich gemeinsam gesund werden. Danke nochmals für deine lieben Zeilen. Gott segne und behüte EUCH.
SEINE LIEBE HÖRT NIEMALS AUF

Marlene

Andrea Weiss
22. Mai 2024 um 11:10

Lieber Rainer,
erst jetzt bin ich auf dich und deine (eure) Geschichte gestoßen. Durch deinen Lauf bin ich auf dich aufmerksam geworden.
… meine Geschichte geht zurück ins Jahr 1996.
Bei meinem Mädchen sah man eine Auffälligkeit in der Nackenfalte. 18. SSW. Fruchtwasserpunktion… Gewissheit… Weltuntergang…. Eine Chromosomenstörung wird sie sterben lassen;bis dahin – schwer krank und schwer beeinträchtigt wird sie sein, wenn sie es überhaupt bis zur Geburt schafft bzw. diese überlebt.
Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Mein Mann sagte gar nichts. Nur, dass es nicht zur Welt kommen soll.
Es zerriss mich, ich weinte nur noch bat Gott um Hilfe… sie kam nicht. Ich musste entscheiden. Es war mein erstes Kind, ein Wunschkind. Ich war 26.
Alle waren sich einig; Ärzte – da es auch für mich ein Risiko war, Familien – da es bereits ein schwer behindertes Kind im Umfeld gab.
Dann fuhr ich in die Klinik, bekam ein Wehenmittel … nichts. Tagelang nichts… ich war am Limit meiner Kräfte. Körperlich und seelisch. Ich wollte mein Baby nicht hergeben… und dann ging es. Das Herz schlug nicht mehr… ich wollte sterben.
3 Tage lang lag es tot in meinem Bauch. Vollgepumpt mit Medikamenten, denn die Geburt musste aufgrund von Vergiftungsgefahr schnell stattfinden. Mein Muttermund öffnete sich keinen Millimeter. Mein Mädchen geb ich nicht her. Vollnarkose um die Geburt schnell zu starten… dann wachte ich auf… und weinte bitterlich. Ich konnte nicht aufhören; mein Mann kam und sagte, dass ich beruhigt sein kann, es sei vorbei… sie haben das Baby geholt. Mein Unterbewusstsein hat es bereits gewusst… Tränen und Verzweiflung. Ich bereue bis heute, dass ich das Baby nie gesehen habe. Es wurde zerstückelt und wie Müll entsorgt. Mein Leben lang werd ich das nie vergessen.
Ich habe 3 gesunde Kinder für die ich unendlich dankbar bin. Auf dem Grab meiner Eltern steht ein Engel auf dem steht ANGELIKA 1996…

Andrea Weiss

    Rainer Juriatti
    23. Mai 2024 um 07:20

    Liebe Andrea! – Vielen lieben DANK für deine Geschichte. Genau solche Schilderungen sind es, die mich veranlassen, in diesem unseren Jahr 2024, 29 Jahre nach dem Tod unseres Sohnes und mehr als 30 Jahre nach dem Tod unserer weiteren vier Kinder einen 1.200 KM Lauf durch Österreich zu machen: damit viele Menschen von unseren Geschichten erfahren und unsere Sternenkinder Eingang in die Gesellschaft finden. DANKE!!!

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