Die Abwesenheit des Glücks. Ein erster Textauszug.
Rainer Juriatti
In wenigen Wochen erscheint das wohl wichtigste und – im Sinne dessen, was ich schon als junger Mann meinte, unbedingt schreiben zu wollen – längst andauernde Buch. Nicht weniger als 20 Jahre sind seit den ersten Entwürfen vergangen. Nun ist das Lektorat abgeschlossen. Hier die Eröffnung, die ersten zwei Seiten:
Die Zeit des Menschen ist nichts,
solange man sie nicht erzählt.
(Paul Ricoeur)
für Pablo
26. April 2017
Du musst ihn lieben, denkst du, so lange du hier bleibst, damit nur ein einziger Mensch ihn liebt. Manchmal bleibt die Schwermut deine dunkle Geliebte dabei, betonst du, ein Gedicht von Traute Foresti im Kopf. Du dachtest, es kann dir nichts passieren, und das hier, das kann dir sowieso nicht passieren, es passiert anderen, dachtest du, es passiert jeden Tag, es passiert bedauernswerten Menschen, nicht aber dir, dir passiert das nicht, weil es nicht vorgesehen ist, weil es deiner Liebe und deiner Beziehung nicht entspricht. Deshalb passiert es nicht. Als du ganz jung warst, da dachtest du überhaupt und ganz im Allgemeinen, es könne dir nichts passieren, und das hier, das werde dir sowieso nicht passieren, und im Nachhinein erschien es dir nicht angemessen, angesichts deiner großen Gefühle und angesichts deiner Pläne mit jenem Menschen, dessen Gefühle du teilst. Dass so etwas passiert. Und natürlich und zuletzt und am allerwichtigsten: Es kann nicht passieren, weil es nicht sein soll. So etwas ist nicht. Nicht in deinem Leben. So dachtest du.
Zweiundzwanzig Jahre später erkennst du, das Schreckliche behält seinen Schrecken, solange du es nicht begreifst, und das Geschehene kann man nicht begreifen in letzter Konsequenz. Du bist gezwungen, ein kleines, ein winziges Bild mit einem winzigen Menschen darauf in deinen Händen zu halten, an jenem Tag, der immer wiederkehrt, so lange du leben wirst, und du nimmst dieses Bild erneut in die Hände und zum tausendsten Mal und zum millionsten Mal betrachtest du es. Auf dem Schrank steht es für gewöhnlich, hoch oben, sein Horizont und damit der Horizont deines Kindes beschränkt darauf, in den immer gleichen Wohnraum zu starren, auf das Zentrum des Hauses zugleich, den Ort der Familie, den Ort aller Geschehnisse nach ihm, und dennoch scheint er nur beschränkt, dieser Horizont, es ist nicht leicht zu erklären in einem einzigen Satz.
Deine Finger gleiten über die Kanten des Bilderrahmens und formen den Staub zu einer Kugel, ganz automatisch tun sie es, man tut es, ohne darüber nachzudenken. Immer noch betrachtest du das kleine Polaroidbild, das euch geblieben ist, während du es auf dem Kachelofen platzierst. Und schon wieder: Nicht nur dieses Bild ist geblieben, weit mehr ist geblieben, es ist nicht leicht zu erklären. Du öffnest das verglaste Türchen der Feuerstelle, und die feine Staubkugel zwischen deinen Fingern landet in der kalten Asche. Auf dem Ofen wird das Bild heute bleiben, es ist sein Tag. Der Unterschied zu anderen Momenten im Laufe eines Jahres liegt allein in dieser Handlung, diesem bewussten Weitertragen des Bildes. Denn so verhält es sich, wie es sich in deinem Leben seit mehr als zwei Dekaden verhält: Ende April nimmst du dieses Bild, betrachtest es bewusster als an anderen Tagen, platzierst es auf dem Ofen und räumst es am Tag darauf zurück an seinen angestammten Platz, hinauf auf den alten Schrank, hoch über eure Köpfe. Von dort oben blickt dein Sohn auf euch, begleitet die Familie, die fröhlichen Stunden genauso wie die traurigen Momente, die Liebkosungen wie auch jeden Streit. Oft gleitet dein Blick hinauf zu ihm, einem stillen Gruß gleich oder auch aus Gewohnheit, ganz selbstverständlich ist er einer von euch.
(coming soon: Erscheinungstag 26. April 2018)
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text
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