Reisebegleiter bei Kindsverlust
Vera Juriatti
Bei unseren Reisen, die uns inzwischen durch die Steiermark, nach Kärnten, ins Kleinwalsertal und durch ganz Vorarlberg geführt haben, schweige ich meistens. Wenn Philipp, Arnold und Rainer auf der Bühne sind, dann schweige ich sowieso. Ich sehe das Publikum, ich sehe die Hände, die sich halten, ich sehe die weinenden und dann auch die lächelnden und manchmal auch zustimmend nickenden Gesichter. Und später, in den Foyers am Büchertisch, da komme ich mit Paaren und Frauen ins Gespräch.
Eigentlich schreibe ich ja nicht, aber während der letzten - wunderschönen - Reise sind mir wieder ein paar Aspekte aufgefallen, die immer wieder erzählt wurden, von ganz verschiedenen Menschen. Und auch das Publikum selbst ist mir aufgefallen. Deshalb möchte ich heute ein paar Zeilen darüber verlieren:
Scham begleitet uns
Immer wieder haben mir Frauen erzählt, dass sie sich geschämt haben. Scham ist ja auch eines der Gefühle, die mein Mann in seinem Buch beschreibt. Wir alle schämen uns. Wir schämen uns, nicht fähig zu sein, ein Kind auszutragen, wir schämen uns, uns nicht als richtige Frau zu fühlen, wir schämen uns auch für unser zu schnelles Reden - wenn wir anderen freudig mitteilen, schwanger zu sein und manchmal nur wenige Wochen darauf sagen zu müssen, dass wir unser Kind verloren haben.
Scham begleitet uns aber auch auf eine ganz andere Weise: Wir schämen uns, dass wir trotz Kindsverlust unser Gefühl bewahren, doch noch Kinder haben zu wollen. Nach dem ersten Kindsverlust versteht das unser Umfeld noch, nach dem zweiten vielleicht auch noch, doch dann schlägt die Stimmung zu unseren Ungunsten um: wir ernten Unverständnis. In den Gesprächen mit Paaren und Frauen wurde mir klar, dass man das ganz deutlich unterscheiden muss. Auf der einen Seite ist da die Trauer über unser verlorenes Glück, auf der anderen Seite aber bleiben wir doch ganz normale Frauen, ganz normale Paare. Dort, wo die Beziehung voller Hoffnung und auch Freude steckt, da ist das möglich, denke ich.
Schweigen begleitet uns
Je mehr unser Umfeld mit Unverständnis reagiert, desto mehr fangen wir an zu schweigen. Wir sagen nicht mehr, dass wir schwanger sind. Wir sagen auch nicht mehr, dass wir - vielleicht „wieder“ - ein Kind verloren haben. Wir gehen allein damit durch die Welt, um ja nicht andere damit zu belasten oder zu belästigen.
Als wir in einer kleinen Gemeinde zu Gast waren, erlebten wir nach dem Kirchenkonzert eine fast neunzigjährige Frau, die den Veranstalter und den Bürgermeister „schockierte“, weil sie das erste Mal in ihrem Leben offen darüber sprach, ein elf Monate altes Kind begraben zu haben. Bevor sie es sagte, lief sie auffallend aufgeregt durch die Anwesenden, so, als suche sie die richtige Adresse für ihre wichtige Mitteilung. Niemand in diesem kleinen Ort hat es bis heute gewusst. Kaum hatte sie den erleichternden Satz ausgesprochen, ging sie. Das macht das Schweigen aus uns: einen Dampfkessel, der sich früher oder später entladen muss.
Großeltern begleiten uns
Und dann ist mir noch das Publikum aufgefallen: Ich treffe auf immer mehr Großeltern, die mich ansprechen und fragen, was ich mir von meinen Eltern oder Schwiegereltern gewünscht hätte. Auf der Heimreise habe ich dann zu meinem Mann gesagt, dass ich eigentlich mit meiner Mutter bis zu ihrem Tod nie über meine Gefühle gesprochen habe. Das schmerzt ein bisschen, gerade die Mutter spielt ja im besten Fall immer eine große Rolle im Leben eines Menschen. Dass immer mehr Großeltern zu unseren Veranstaltungen kommen, ist ein schönes Zeichen, dass sie sich bemühen, über unser Thema Bescheid zu wissen. Das ist schön.
Reden und Nichtreden ein Fehler
Auf der Heimfahrt sprachen mein Mann und ich natürlich lange über das Publikum, die Begegnungen, die Gespräche. Und wir kamen zu einem durch viele Erzählungen belegten kuriosen Schluss: Redet man als betroffenes Paar zu viel über seine Gefühle, dann ist das ein Fehler. Man erntet Vorhaltungen, Vorwürfe, seichte Beschwichtigungen. Redet man nicht darüber, dann ist das auch ein Fehler. Man bleibt einsam, man erstickt an der Trauer, man findet keinen Halt bei einem anderen. Also: beides bleibt ein Fehler.
Und einige Paare und Frauen haben mir gesagt, dass sie genau aus diesem Grund zu uns gekommen sind. Um zuzuhören, um sich durch das Textkonzert in ihren Gefühlen bestätigt fühlen zu dürfen und – um am Büchertisch ein paar Worte mit mir zu wechseln.
Die Abwesenheit des Glücks: Textkonzerte 2019.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text