Sterben, aber wie?
von Rainer Juriatti
Es war mir real, so gänzlich ungeschminkt grausam, brutal und Albträume verursachend bis gestern nicht möglich, überhaupt in Erwägung zu ziehen, jemanden zu töten. Es ist das grässlichste, das der Mensch einem anderen Menschen antun kann. Bis gestern dachte ich in dieser und keiner anderen Weise.
An Tag Neun der bestialischen Kriegserklärung Putins an den gesamten Westen erwachte ich allerdings plötzlich mit dem Gedanken, für Freiheit, für Demokratie und unsere westliche Welt in den Krieg ziehen zu wollen. Es wurde mir schlagartig bewusst, bereit zu sein, unsere Werte, über die ich so gerne Witze mache, ganz konkret mit meinem Leben zu bezahlen. Wir bezahlen ja sowieso früher oder später alles mit unserem Leben. Ich wünschte mir beim Erwachen, jemand sage, man solle sich melden. Ich hätte sofort an entsprechender Stelle angerufen.
Solche Gedanken machen mir durchaus auch Angst, denn offenkundig schafft es ein einziger Mensch, dass er sämtliches Denken und Fühlen meines bisherigen Lebens ins Wanken bringt.
Graz, Samstag, 15 Uhr
Meine Aufgeregtheit, die mich offenkundig nicht mehr schlafen lässt, weicht großer Enttäuschung, als ich am Samstag Nachmittag am Grazer Hauptplatz eintreffe. Ich hätte erwartet, auf tausende Menschen zu stoßen. Sofort denke ich an die Zehntausenden, die gegen die Coronamaßnahmen auf die Straße gingen. Für die Ukraine kommen gerade mal wohlwollend geschätzt 200 Leute. Klar, man könnte sagen, es liege am Wetter. Es ist kalt und neblig heute. Am Jakominiplatz allerdings, vielleicht 200 Meter entfernt, tummeln sich mindestens so viele Leute wie am Hauptplatz. Eine Sprecherin erläutert den wenigen Demonstrierenden die Lage in der Ukraine und bittet um Spenden. Eine Sängerin intoniert die ukrainische Nationalhymne. Die rund 200 Menschen harren brav aus. Das Ausbleiben tausender Demonstrierender ist beschämend, so viel wird an diesem Samstag Nachmittag auf dem Hauptplatz in Graz gewiss.
Tatsächlich totes Recht
Gleichsam ist es Gewissheit geworden mit dem 24. Februar dieses dunklen Jahres, dass Menschenrechte nichts mehr gelten. Die „Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ vom 4. November 1950, unterzeichnet in Rom, kann geschreddert werden. Artikel 2 gilt nicht mehr: „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt.“ Artikel 5 gilt nicht mehr: "Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ Artikel 9 gilt nicht mehr: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.“ Artikel 10 gilt nicht mehr: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung.“ Und nicht zuletzt zeigt auch Artikel 15 keinerlei Wirkung, da können auch Waffen- oder Helmlieferungen nicht darüber hinwegtäuschen: „Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.“
Tschetniks gegen Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj
Es ist eine Tatsache, dass Putins Schergen und darüber hinaus hochbezahlte Tschetniks (die Privatarmee wurde von Putin engagiert, um den Ukrainischen Präsidenten sowie dessen Familie zu töten) jegliche Menschlichkeit verloren haben. Ebenso ist es längst belegte Tatsache, dass Putin komplett verrückt ist und lange schon auf alles schießen lässt, das ihm nicht die Füße leckt (inklusive des eigenen Volkes). Daraus lässt sich auch ungeschminkt ablesen, dass Putin keine Sekunde zögern wird, uns zu gegebener Zeit ein paar Atombomben auf den Schädel zu schleudern. Die letzten Tage auf europäischem Boden sind nur der Anfang des russischen Adolf Hitler: Heute die Ukraine, morgen die ganze Welt.
Putin hält den gesamten Westen inklusive den USA seit vielen Jahren im Würgegriff. Und wir? Wir haben Angst? Wovor? Es ist eine Tatsache, dass wir sterben werden. Die Frage ist, wann das sein wird und in welcher Haltung wir unser Sterben vollziehen. Und so habe ich keine Angst mehr vor meinen Gedanken, die alte Einstellungen offenkundig zum Einsturz gebracht haben.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text