Vom gereiften Mensch-Sein.
Rainer Juriatti
Der Grazer Maler Josef Niederl eröffnet am 24. Juli 2020 in der Galerie Centrum in der Glacisstraße 9 in Graz seine jüngste Ausstellung. Hier der Text aus seinem Katalog. Auf das "live-Vortragen" habe ich verzichtet, allerdings trage ich den Text auf meinem Youtube-Kanal vor. Vor Ort, nein, das mache ich nicht mehr gagenfrei.
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Ein karg wirkender Körper sticht besonders ins Auge, besser ist es nicht in ein Kürzel zu fassen; ein karger, zerbrechlicher Mensch, ein nach hinten gewinkelter dünner Arm, Neugier signalisierend durch das vorgestreckte Haupt dabei, betrachtend einen diffusen Nebel aus Blau: Die Neugier der ausgemergelten Frau ist es, die erinnerlich bleiben wird, ihr distanziertes und dennoch kindlich offenes Hinwenden auf einen unbekannten Horizont zu, einen Horizont voller Wärme noch, doch bereits durchdrungen durch dieses unbestimmte Blau.
Als das Land still stand, erreichte das Da-Sein vollkommen neue Dimensionen. „Die Gesellschaft in ihrer Weisheit“, meinen die Buchautoren und Todesforscher S. Levine und N.A. Scotch, „hat wirksame Mittel hervorgebracht, sich gegen die Alltagstragödien des Todes zu schützen, um ihre Aufgaben ohne emotionale Anteilnahme und ohne Hindernis fortsetzen zu können“.
Das neue Da-Sein kennt diese probaten Mittel nicht mehr: Der Tod ist die Drohung der Stunde. Der Tod ist aus seiner statistischen Berechenbarkeit heraus getreten. Der Tod wütet im Supermarkt, der Tod wütet in der Straßenbahn, in der Schule, am Arbeitsplatz. (Als hätte er dies alles bislang nicht getan.) Der Tod bewegt sich wie blauer Dunst durch unsere Reihen, mal dichter und höchst präsent, mal verschwindend unsichtbar, sohin unscheinbarer, ungefährlich fast, doch plötzlich politisch und medial täglich mehrfach gepredigt – allgegenwärtig dadurch.
Der Tod als Drohung der Tage, bald dann der Wochen und inzwischen der Monate. Nichts ist mehr sicher vor ihm, an keinem Ort dieser Welt. (Als wäre er bislang nicht präsent gewesen.) Und jeder Mitmensch, vor wenigen Augenblicken noch ein begrüßenswertes Gegenüber, wird zum Seuchenträger. Jeder Andere ein Gefährder der eigenen Gesundheit, jeder Mensch Träger des Todes. (Als wären wir das nie gewesen.)
Dem Leben gleich ist der Tod kein ausschließlich individueller Akt, notierte sinngemäß Philippe Ariès in seinem Buch Geschichte des Todes. Dem mag widersprochen werden, bleibt jeder doch allein in seinem Sterben, in seinem Übergang von Hier nach Dort. Ariès jedoch meint mit seinem Satz die Zeremonien, die uns als Hinterbliebene durch unsere Trauer begleiten. Auch dieser Seelenbalsam blieb vielen hunderttausend Trauernden in der neuen Realität bislang verwehrt. Die feierlichen Verabschiedungen und Beisetzungen, symbolische und öffentlich verkündete Zeichen der Nähe zu einem toten Menschen, wurden untersagt. Die Solidarität mit einem Opfer des Todes durfte nicht mehr großzügig öffentlich zelebriert werden. Neben der allbekannten Erkenntnis, dass der Tod immer und in allen Fällen ein großes Unglück, ein malheur bleibt, eine schlechte Stunde, generiert sich die nunmehrig verordnete Distanz zu einem Toten zum fatalen, dauerhaften Seelenschmerz.
Und so folgt in der aktuellen Ausstellung Josef Niederls Antwort auf all diesen Zeitwahnsinn: Handflächen, groß und plakativ auf die Leinwand gedrückt, sprechen eine schreckliche Sprache, eine zutiefst verletzende, eine zugleich selbstschutzverliebte, fragwürdig notwendige. Der Horizont: nun vollkommen ins kalte Blau getaucht. Aus dem Nebel erwächst bedenkliche Gewissheit.
Jetzt ist Da-Sein endgültig zum steten Warten mutiert. Warten darauf, dass der blaue Nebel sich lichtet, der Horizont zurückkehrt in seine wohltuenden Schattierungen, in die Hoffnung auf Nähe und Wärme. Warten in Einsamkeit. Allein-Sein ist Da-Sein geworden. Abwarten und leben in der Hoffnung auf eine Umarmung, Hoffnung auf infektionsfreie Orte, Hoffnung auf die ehemals praktizierten Verrichtungen des Tages, Normalität genannt. Distanz und Nähe sind Begriffe geworden, die Schmerz auslösen. Die Zeit hat uns verändert, es bleibt unbestritten. Und so blicken auch die Figuren bei Josef Niederl in ihre einsame Welt. Fast ausdruckslos, geneigt traurig, fixieren ihre Augen das Nichts im Irgendwo. Auch dies ist nicht besser in ein Kürzel zu fassen: das Nichts im Irgendwo. Etwas Wartendes haftet diesen Blicken an, etwas Duldsames und Abwartendes ruht in vielen ihrer Nichtposen.
Wenn die Autoren Levine und Scotch feststellen, der Mensch habe bewährte Mittel und Wege gefunden, sich gegen die Tragödie des Todes zu schützen, um die Aufgaben des Tages ohne emotionale Anteilnahme fortzusetzen, so hat diese Lebensform einen Dämpfer ungeahnter Dimension erfahren. Nichts geht inzwischen ohne Emotion: Wut, Ablehnung, Resignation, Depression. Innere Revolte. Wir sind zu isolierten Kreaturen in einer Welt voller gefährlicher Viren mutiert. Zugleich ist die Erkenntnis, so der Schriftsteller Allain de Botton, „dass das Leben eine lange Serie dunkler Momente darstellt“, auch der erste Schritt in aufrichtiges Glück. Sofern wir dazu bereit sind, können wir die Freude über eine Begegnung unendlich wohltuend erleben, dürfen vertraute Momente der Stille genießen, den Atem der Natur spüren und die Reduktion der täglichen Termine als ausgesprochen schmeichelnd registrieren.
Unsere Zielsetzungen können den wohl wichtigsten Wandel ihres Reifens vollziehen: Mensch-Sein wird das Zentrale im Da-Sein.
Für Viele zählt inzwischen nicht mehr, sich möglichst lange unbeschadet durch die Welt zu manövrieren, von Ereignis zu Ereignis, von Ablenkung zu Ablenkung, sondern vielmehr, den einzelnen Moment zu leben. Das „Warten“ – nämlich Dasitzen und Schauen – wird dann zum wohltuenden Ritus des Tages. Auch mit solch ruhenden, zufriedenen Augen können Josef Niederls Bilder betrachtet werden.
Hier geht's zum Vortrag des Textes auf dem Youtube-Kanal "Juriatti liest".
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in Text