Was bleibt ist Pablos Baum
Vom Vorlesen, Artikeleinladungen, Zusammentreffen mit Menschen und: dem Baum.
Rainer Juriatti
Eigenschaftsworte des Vornehmen. Eloquent, aufgeräumt, zuvorkommend. Allerdings, Verzeihung, weiß ich es nicht mehr ganz genau. Ich kann mich nicht exakt daran erinnern, mit welchen Eigenschaftsworten ich den jungen Mann während unserer Begegnung tatsächlich ausstattete. Im Nachhinein erst blieb vielleicht das Elegante. Kerzengerade nämlich saß der junge Mann vor uns. Den ganzen Abend hindurch war er sehr zurückhaltend geblieben, hatte das Wort anderen überlassen, nur ab und an berührte er zärtlich die Hand seiner Frau, immer dann, wenn sie von Tränenwellen erfasst wurde. Manchmal zitterten seine Wangen, aber man musste ihn sehr aufmerksam betrachten, um es zu bemerken.
Und irgendwann begann er von jenem Morgen zu erzählen, an dem er seinen Vater angerufen hatte, im Wissen, dass dieser nun erwartete, Geburtsgewicht und Größe zu erfahren. Um die üblichen Freudensätze loszuwerden vielleicht. Anstelle dessen war das Kind tot gewesen. Den Abend zuvor hatten die Wehen eingesetzt, termingerecht. Auf den Tag genau sozusagen. Im Krankenhaus dann, während der üblichen Routineuntersuchungen vor einer Geburt, da hatte die alles erschütternde, die Welt aus den Fugen katapultierende Nachricht das junge Paar getroffen: Es sei kein Herzschlag mehr zu hören. Ihr Kind war wenige Stunden darauf zur Welt gestorben.
Geburtstag ist gleich Sterbetag
„Er stirbt zur Welt“. So ist es auch über unseren Sohn Pablo in „Die Abwesenheit des Glücks“ zu lesen. Zur Welt sterben markiert den totalen Einsturz aller Denkgebäude. Ein Erdbeben ungeahnten Ausmaßes. Eines, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt. Ein Erdbeeren im Erschütterungsgrad 12 von Zehn. 12 von Zehn, es sei wiederholt. Die zentrale Frage, die zurückbleibt, ist jene, was darauf aufgebaut werden soll: Flickwerk oder etwas gänzlich Neues. Betroffene Eltern haben keine Antwort darauf.
Im vergangenen Jahr wurde ich oft gefragt, ob ich einen Artikel schreiben könne. Aus Anlass des Buches „Die Abwesenheit des Glücks“. Niemand sonst könne besser darüber schreiben, wird behauptet.
Alles nur Täuschung
Nein, einen Artikel kann ich nicht schreiben. Was ich an Wesentlichem darüber zu sagen habe, das ist in der Erzählung nachzulesen. Natürlich kann ich einen Mann wie jenen jungen portraitieren, der eloquent erscheint. Doch keine der oben vorgegaukelten Eigenschaften ist wahr, keine trifft zu. Weil sie allesamt Täuschung sind, diese Eigenschaften, hinter der sich ausschließlich das Eine verbirgt: Leere. Ausgehöhltes Dasein. Verbrannte Gedanken. Wie ein Käfer, dessen Panzer allein spazieren geht. Der junge Mann erzählte vom Verstecken in den darauf folgenden Tagen. Nachbarn hatten bemerkt, dass das Auto am Vorabend des errechneten Geburtstermins fehlte. Und so lebte das nahe Umfeld in der Annahme, hier gebe es etwas zu feiern. Anstelle dessen gingen er und seine Frau nicht vor die Tür. Blieben in ihrer Wohnung und wussten nicht, wie sie die Kraft aufbringen sollten, ihren Nachbarn vom Geschehenen zu erzählen. Wussten nicht, woher sie Kraft schöpfen sollten, sich der Welt zu zeigen und Anteilsbekundungen entgegen zu nehmen. Wussten nicht, wohin mit der leeren Wiege.
Während der junge Mann von seinem Erdbeben erzählte, saßen wir in einem Wirtshaus. Ich war dort in der Rolle des Autors zu Gast, der gerade aus seinem Buch vorgelesen hatte. Meine Frau saß in der Rolle eines Menschen am Tisch, der die Trauer als Bestandteil des Lebens akzeptiert und – ohne es selbst zu bemerken – für alle anderen Frauen wie eine „Mutter der Sternenkinder“ wirken musste. Ich sah, wie sie an ihren Lippen hingen. Als sie einige Tage zuvor einer jungen, verzweifelten und bislang kinderlosen Mutter schrieb, sie solle den bevorstehenden Muttertag beruhigt und aufrichtig feiern, da bekam sie zur Antwort, endlich sei damit eine große Last von ihr gewichen. Die junge Frau ertrug es nicht, dass man ihr nach sieben Monaten der Trauer vorhielt, sie solle nun wieder zu leben beginnen. Sie wolle das nicht. Sie akzeptiere nicht, dass man ihr Sternenkind aus dem Bewusstsein dränge. Und der junge Mann am Wirtshaustisch erzählte, wie belastend es für ihn gewesen sei, mit dem toten Kind über den Krankenhausflur zu gehen, unter all den Eltern mit ihren Neugeborenen. „Sie haben den Blick abgewandt“, sagte er, „haben die Köpfe gesenkt“. Er verstehe das. Bitter sei es gewesen, zu wissen, dass andere Eltern Besuch von ihren Verwandten bekommen. Zu ihnen sei der Pfarrer mit einer Bibel in der Hand ins Zimmer getreten.
Sachlichkeit unmöglich
Ich bleibe dabei: Über zu früh verstorbene Kinder einen sachlichen Artikel zu schreiben, bleibt mir unmöglich. Darin vielleicht liegt auch der Grund, weshalb es zwanzig Jahre gedauert hat, um die Erzählung zu verfassen. Da es nur um das Erzählen selbst geht, um das Finden des richtigen Wortes, um den einen Satz vielleicht, der alles sagt. In unserem Fall: Pablo starb zur Welt. Nach Erscheinen des Buches habe ich gelernt, dass wir – seien wir Journalisten, Feuilletonisten, Kommentatoren, Werbetexter, Redakteure oder eben schriftstellerisch Tätige – uns Geschichten aneignen, um darüber zu schreiben. Wir dürfen der Sache nicht zu nahe kommen und sollen uns dennoch annähern. In meinem jüngsten Buch verhält es sich umgekehrt: Ich musste mich davon entfernen, um erzählen zu können. Denn das allein bleibt es, was ich zu sagen habe: „Die Abwesenheit des Glücks“ ist eine Erzählung über einen Menschen, der nie gelebt hat. Der sechs Monate im Bauch seiner Mutter verbrachte und dennoch eine inzwischen 23 Jahre andauernde Biografie vorzuweisen hat. Die Erzählung über einen, den es für alle anderen nie gegeben hat.
Allein Vater bin ich und Baumpfleger
Ich kann keinen Artikel schreiben, es sei ein letztes Mal betont. Denn nach all dem Vorlesen, Zuhören und Reden kehren wir immer wieder zurück in unsere Stille. Wie alle anderen auch. Wir bleiben Gefangene unserer Biografien. Wir alle haben unseren eigenen Weg zu finden, mit dem Tod unserer Kinder gut zu leben. Und das, was ich in Artikeln zu sagen hätte, bleibt immer nur für meine Frau und mich bedeutsam, kann kein Rat sein, schon gar nicht eine Strategie: Meine Frau und ich haben alles Erlebte schlichtweg in unseren Alltag gepackt. So verbrachten wir auch in diesem Jahr – vor ein paar Tagen – einige Stunden im Garten, sozusagen integriert in unseren Jahreszyklus: Der Winterschnitt an Pablos Baum stand an. Wir haben inzwischen zwei Schnittkurse hinter uns gebracht, wollen es genau wissen, wollen es können. Unseren lebenden Kindern kommt jede uns mögliche Form der Unterstützung zu, also soll auch dem Baum (der sich durch unseren Umzug verzweifacht hat) ein Stück unserer Aufmerksamkeit gehören. Ganz alltäglich. Das ist unser Weg. Integration aller Kinder in unser ganz unspektakuläres Leben.
Die Abwesenheit des Glücks: Textkonzerte 2019.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text