Was wir aus dem Drama lernen
von Rainer Juriatti
Was hier folgt, ist gegebenenfalls nicht allzu schön. Aber schön ist es dennoch: Es sei erzählt, da ich damit in exzellenter Weise gegen das operettenhaft Verführerische und somit für das weitaus lebensnähere Drama plädieren kann. Das Drama nämlich hat den schöngeistigen Gesängen und dem aufgesetzten Getue Einiges voraus, da es darauf verzichtet, uns etwas vorzumachen – außer seinem exemplarischen Spiel selbst. Niedertracht, Fanatismus, Gewalt und Aggression machen uns nichts vor, sondern stoßen uns auf das, was wir sind: Bestien.
Willkommen also im realen Drama. Meiner Frau schrieb er: „Ihr glaubt, weil ihr Sternenkinder fotografiert, seid ihr bessere Menschen.“ Bamm! Voll ins Herz. Mir schrieb er: „Du bist so ein Arschloch! Du wirst schon noch sehen, wohin das führt!“ Bamm. Voll in die Fresse. Mit Rufezeichen. Arschloch mit Rufezeichen. Einen Tag davor allerdings rief er noch aus: „Ihr seid so genial!“ Auch mit Rufezeichen. Ja, am Ende bin ich ein Arschloch und nicht genial. So ist es.
Während einer Probe vor einigen Wochen sinnierte er: „Wir müssen Licht senden in die Tiefe des menschlichen Herzens, das ist des Künstlers Beruf.“ Das Zitat stammt nicht von ihm, es gehört Schumann. Inzwischen wissen wir: Der Zitierende lebt glücklicherweise eh nicht, was er sagt. Bestenfalls tut er bis zur Gagenabrechnung so. Und ebenso offenkundig ist dieser Mann seinem Metier entsprechend operettengeschädigt, hat mit Sicherheit etwas zu viel an ‚heiler Welt‘ geschnupft – was ihn selbstverständlich ein Stück weit entschuldigt.
Für uns Dramenmenschen hingegen gibt es nichts zu entschuldigen: Im Drama erfahren wir Unangenehmes, da in den Tiefen der Dramatikerherzen das Entsetzliche, das Furchtbare, das Dunkle und Schlimme gärt. Ich kenne das von meinem Beruf der Schriftstellerei her sehr gut, wühle ich doch seit mehr als 40 Jahren in diesem schrecklichen Sumpf. Knüpfen wir im Schauspiel dann ein Fädchen Zuversicht daran, so kann das Publikum versöhnt nach Hause gehen (aber oft wollen wir das gar nicht). Jedenfalls sind die Zuschauer froh, das Gesehene nicht selbst erlebt zu haben. In der Welt des „Arschloch“-Schreibers ist es umgekehrt: Man geht nach Hause und weiß, dieses Ideal an Harmonie nie erreichen zu können.
Als Protagonist des operettenhaften Scheinwelt-Ideals erreichen jede und jeder mit den Jahren den Moment des innerlichen Kotzens, spätestens mit dem Verlust des Körperideals und der Stimme, so auch der online-Täter – einer mehr übrigens im Reigen der uns immer wieder beschimpfenden Menschen. Er gaukelte uns während der wenigen Proben vor, ein Schöngeist und Menschenliebender zu sein. Seine Maske fiel mit dem Vorhang. Umgehend. Da sprach er von Betrug und Despotismus, von mangelndem Respekt und Ausnützung seiner Genialität.
Man fragt sich, warum? Warum das alles? Was trieb ihn derart in Rage? Die Antwort ist schnell gegeben: Er durfte bei der filmischen Postproduction nicht mitreden. Naja, er ging ja auch schlafen nach seinem Fünfzehnhundert-Euro-Auftritt. Wir arbeiteten weiter, trugen ihm dann seinen Anzug von der Garderobe ins Hotel nach, fuhren ihn durch die Gegend, brachten ihn am Ende zum Bahnhof, wo er besagten Spruch der Genialität von sich gab, um uns bereits 24 Stunden später mit seinen Dramen-Mails zu bombardieren, in denen er feststellte, ein Weltstar zu sein, den man in einer Postproduction noch nie ausgeklammert habe. Dabei hatten wir eh schon seine schönsten Momente ausgewählt, für den Werbefilm, der ihm weitere Auftritte einbringen sollte.
Sie, geneigte Leserschaft, mögen sich selbst ein Bild machen, ich allerdings behaupte, es steht Eins zu Null für das Drama. Nicht wir, vielmehr dieser Mann hat es belegt. Er hat aus einem gelungenen Theaterabend nach Fallen des Vorhangs ein Drama gebaut, das den Tiefen seines Herzens entsprungen ist, in dessen Kammern das von ihm zitierte Schumann'sche Licht der Kunst offenkundig nicht zu Hause ist. Aber wie hieß es eingangs? „Gewalt und Aggression machen uns nichts vor, sondern stoßen uns auf das, was wir sind: Bestien.“
Drama ist aufrichtiger als Genialitätsgefasel. Und ich bin froh, zu sein, wer ich bin: Ein Arschloch, das sein Leben Sternenkinder gewidmet hat und weiterhin widmet. Das sei in aller Ernsthaftigkeit betont, denn mit seiner Sternenkindaussage hat dieser Mann tatsächlich kein Licht in Herzen gesandt, sondern kalten Hass.
Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text