Woran wir kranken
von Vera Juriatti
Seit längerer Zeit beschäftigt mich das Klarwerden über das große, oft benutzte, vielfach leichtfertig ausgesprochene, gerne heimelige Gefühle verursachende und somit bevorzugt hervorgezogene Wort „Freundschaft“. Es gibt ganz vielfältige Definitionen von Freundschaft, die mit meiner Definition nicht immer übereinstimmen.
Für mich ist Freundschaft Vertrauen, beidseitiges Geben und Nehmen, Verständnis und dem anderen auch sagen, was gerade nicht passt, oder aber ihn/sie wieder auf den Boden zurückholen, ebenso bedeutet es, Diskussionen auch mit unterschiedlichen Meinungen zuzulassen. Freundschaft heißt so in Folge, gerne Zeit miteinander zu verbringen.
Wenn ich jene ganz wenigen wirklichen Freunde treffe, die ich habe, dann ist das Wiedersehen stets – auch wenn das letzte Treffen schon längere Zeit vorüber ist –, als ob es gestern gewesen wäre.
Michel de Montaigne (1533–1592) schrieb in seinem Essay „Über die Freundschaft“ vor allem aus einer privaten Perspektive: Die gewöhnlichen Freundschaften bestünden nur um des gegenseitigen Nutzens willen. Sie seien also labil und böten nicht das Vertrauen seiner Freundschaft.
Freunde sind in meinem Leben gekommen und auch wieder gegangen, so viel weiß ich, und ich glaube, das Gehen lag an meiner anders gearteten Definition abseits oberflächlichen Getues und in vielen Fällen leider auch an meiner nicht-mehr-jederzeit-Verfügbarkeit, wenn also mein Gegenüber keinen maximalen Vorteil aus unserer Verbindung mehr ziehen konnte. (Meistens sagen solche "Freunde" sogar, sie würden niemals eine Freundschaft beenden und verstecken ihre "Kündigungen" hinter der Nichtpflege ihrer Beziehungen.)
Somit krankte es in meinen Augen in vielen Fällen am Aspekt des Helfens, dem aus einer guten Freundschaft automatisch entspringenden Da-Sein-für-den-Anderen. Ja ich helfe gerne, ich helfe immer und suche den schnellsten und bestmöglichen Weg, für meine Freunde und Verwandten da zu sein. In den letzten Jahren war meine Hilfe oft gefragt – bis ich plötzlich selbst nicht mehr konnte. Doch das Ende meines Krafttanks wurde nicht akzeptiert, hatte man mich doch schon während meiner beruflichen Zeit geholt für Überstunden, Dienstübernahmen und - eben - im engeren Verwandtenkreis zum Babysitten (ich richtete sogar meinen Dienstplan danach, um für Babys anderer da zu sein). Manchmal denke ich mir heute: Selbst schuld. Das sind aber nur die bitteren Momente, denn ich habe es immer gerne gemacht. Leider musste ich dann jedoch bemerken, dass ich nicht mehr angerufen wurde, als ich nicht mehr so funktionierte, wie es mein nahes Umfeld gewohnt war. Plötzlich fühlte ich mich ausgenützt, weggeworfen, entsorgt. Ich war und bin darüber sehr traurig.
So erging es mir oftmals in meinem Leben mit Freundschaften: Als ich Hilfe brauchte und nichts mehr für vermeintliche Freunde (und Verwandte) tun konnte, war ich für diese Menschen nicht mehr existent.
Geblieben sind Zwei. Meine zwei besten Freundinnen leben viele hunderte Kilometer von mir entfernt, aber wenn wir uns treffen, wird jede Minute ausgekostet. Es ist schön, solche Freunde zu haben, wir verstehen uns blind. Keine Erwartungen oder Bedingungen sind an diese Freundschaften geknüpft, ich darf ich selbst sein, darf Spaß haben, lachen, weinen: Alles ist möglich.
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Veröffentlicht von: Rainer Juriatti in der Kategorie des Notwendigen, Text